Donnerstag, 26. März 2009
Ode an die Weisheit
Mutter der Weisheit trage mich auf deinen Schwingen.

Mutter der Weisheit macht mich lachen und weinen im selben Augenblick.

Oh du unendliches Mitgefühl allein mit der Kreatur dort vor meinen Füssen, kannst schon unerträglich tief gehen bis in die Wurzel. Und dann: Unendlich viele Wesen sind dort um mich herum. Mitgefühl mit ihnen allen empfinden zu können ohne darin geübt zu sein, hat meine Mutter verrückt werden lassen. Und mich die Unempfindlichkeit üben gelehrt. Nun läuft der Prozeß rückwärts.

Mutter der Weisheit trage mich auf deinen Schwingen.

Denken wird zum Leitstrahl, zum Rettungsanker, zum Drahtseilakt. Rechts und links drohen die tiefen Abgründe des Unerklärlichen, des Undenkbaren, des fühlbaren, erfahrbaren Urwissens. Es gibt keinen Beweis. Es gibt nichts, was kalte Techniker überzeugen könnte von der Schönheit einer Ackerwinde, eines Wassertropfens am Grashalm. Und fühlt er es doch, krallt er sich an seinen Balancierstab. „Ich bin nüchterner Denker“. Wie feige, wie langweilig, wenn Löffel sich niemals verbiegen und Tote nur im Grab liegen anstatt einen in ihren Träumen zu besuchen.
Die Ritze in der Ritze in der Ritze.
Ein Netz besteht aus lauter Löchern. Was ist wichtiger – das Loch oder das Garn, das es umrahmt? Was ist mein Leben mehr als ein Atemzug in der Unendlichkeit, ein Hier und Jetzt von vielen anderen möglichen und tatsächlichen Hier und Jetzt.

Mutter der Weisheit trage mich auf deinen Schwingen. Weit fort ins Hier und Jetzt. Kurzgeschichten

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Montag, 26. Januar 2009
Maranatas Tod
Maranatas Tod ist der erste "Roman", den die Autorin geschrieben hat im zarten Alter von 13 Jahren. Sie hat sich damals sehr intensiv mit dem Thema Tod auseinandergesetzt, da sie in dem Alter irgendwann entdeckte, dass sie einmal einen Großvater hatte, denn sie niemals kennen gelernt hat. Er ist bereits acht Jahre vor ihrer Geburt gestorben. Daraufhin hat sich die Autorin sehr viele Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht. Um den Versuch einer Antwort geht es in ihrer Geschichte. Geschrieben hat sie damals mit dem Füller (wahrscheinlich ein Geha) in roter, grüner, lilafarbener und blauer Tinte in ein großkariertes Heft, auf dem vorn eine Mickey Mouse drauf ist. Das Original hat sie gerade vor sich liegen und wird es nun für sich und ihre geneigten Leser übertragen. Sie schwört, dass sie keinerlei Veränderung vornehmen wird. Sie lesen also die Transkription der Originalfassung von 1983.

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Kurzgeschichten

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Maranatas Tod
Für meinen Großvater

Ich sitze hier und schreibe meine Memoiren. Eigentlich erscheint selbst mir, ja gerade mir, dieser Umstand irgendwie lächerlich und merkwürdig. Ich will den Verlauf meines Lebens aufschreiben und habe doch das Gefühl, es müsste weitergehen, immer weitergehen, doch ich weiß, dass ich sterben muss. Ich schaue dem Tod ins Angesicht, wie man soben werde, fühle ich mich dem Tod gleichzeitig entfernter und verbundener als je.

Früher habe ich mich nie vor dem Tod gefürchtet, vor allem, weil er mir so unwirklich vorkam und so unmöglich in Bezug auf meine Person. Jetzt fü schön sagt, und es ist ein vollkommen idiotischer Ausdruck. Wie so viele, die man so schön sagt. Eigentlich schaue ich dem Tod nicht ins Gesicht. Ich weiß nicht, was ich zu sehen erwarten würde.

Jetzt, wo ich weiß, dass ich bald sterbe, fürchte ich den Tod auch nicht. Aber ich durchwachte lange Nächte, die mir das Gegenteil bewiesen haben, doch nun ist das vorbei. Es war, als hätte jemand einen Vorhang aufgezogen und Licht in die dunkle Verzweiflung meiner Seele fallen lassen. Es klingt etwas poetisch, was ich hier zusammenschreibe. Dabei war das Ganze nichts weiter, als dass mir plötzlich klar wurde, wie dumm ich doch war, mich vor etwas zu fürchten, das ich doch gar nicht kannte. Zudem kann ich diesem Unbekannten sowieso nicht mehr entfliehen. Ich fürchte den Tod nicht und genauso wenig hasse ich ihn. Ich hasse ihn nicht mal dafür, dass er mir einen Teil meines Lebens nimmt. Ich hasse nur die Lüge, die mich wohl bis ans Ende meiner Tage (wieder so ein dummer Ausdruck, schmalzig und ungenügend) begleiten wird. Selbst wenn ich schon fast tot sein werde, werden sie behaupten, ich würde sicher wieder gesund. "Schatz", werden sie sagen, "das geht bald wieder vorbei." Ich frage mich, was ich empfunden hätte, wenn ich nie, solange ich noch reden und denken kann, von meinem bevorstehenden Tod erfahren hätte. Wäre ich in dem Bewusstsein gestorben gar nicht zu sterben, sondern bald wieder gesund zu werden. Oder hätte mich plötzlich die Angst gepackt mit ihrer eisigen Klaue gepackt und mein Tod wäre ein einziger Alptraum gewesen?

Ich weiß es nicht und kann es mir genauso wenig vorstellen. Genau diese Vorstellungen und Hirngespinste über den Tod, den Sensenmann machen einem ja soviel Angst. Der Tod, besser gesagt, die Zeit nach dem Tod ist genauso unerforscht wie der Pluto. Man weiß gerade, dass es ihn gibt. Alles Andere sind Hypothesen, Vermutungen. Man kann kaum etwas wissenschaftlich beweisen. Wobei ich glaube, dass dies beim Pluto einfacher ist. Doch man kann diese Vermutungen und Vorstellungen nicht aus seinem Gehirn verbannen. Alles, was es bezeichnet, muss mit einer Vorstellung verbunden sein. Ob es dabei nun um einen Stuhl, einen Hut oder den Tod geht, ist ziemlich egal. Selbst die Unendlichkeit versucht das Gehirn zu erfassen. Und manchmal scheint sie auch vorstellbar. Aber das ist eine Illusion. Denn sobald man die Möglichkeit, dass etwas unendlich ist, durchdenkt, zerplatzt diese angeblich gehabte Vorstellung von Unendlichkeit wie eine Seifenblase und was übrig bleibt ist eine riesige Leere. Man spürt das Unfassbare. Vielleicht ist dieses Gefühl der Anfang der Unendlichkeit!?

Aber davon genug. Ich glaube, dass dies beim Tod ein bisschen anders ist. Der Tod ist eine Realität und vielleicht wird deshalb auch die Vorstellung über die Zeit nach dem Tod als real angesehen, oder einfach nur deshalb, weil man vor keiner Vorstellung noch mehr Angst hat, wer weiß!?

Ich selbst stelle mir ziemlich vieles vor. Doch ich sehe keine dieser Überlegungen als schrecklich an und irgendwie bin ich neugierig auf den Tod. Natürlich ist das nicht immer so, oft bin ich traurig, dies alles zurücklassen zu müssen. Meine Freundin, die von allem nichts ahnt, meine Eltern und meine Geschwister, die nur zu gut Bescheid wissen, außer dem sechsjährigen Niklas vielleicht, obwohl ich da nicht so sicher bin. An solchen Tagen, wo ich all das auf keinen Fall verlieren möchte, wäre ich fast dankbar, wenn ich nichts von der schwere meiner Krankheit wüsste. Aber nun ist nichts mehr zu wollen. Ich bin selbst Schuld. Man lauscht schließlich nicht, aber manchmal geht es eben nicht anders.
Also eigentlich wollte ich meine Memoiren schreiben, die wohl etwas spärlich ausfallen werden, denn in dreizehn Jahren kann man nicht sonderlich viel erleben. Besonders, weil man an fast fünf Jahre dieser Zeit keine Erinnerungen hat.

Meine Memoiren

Ich wurde am 13. September 1969 in Frankfurt geboren, als drittes Kind meiner Eltern, die mich zu allem Unglück auch noch Maranata nannten. Von meiner Geburt weiß ich herzlich wenig. Früher sagte ich immer, wenn wir davon sprachen, ich würde in der Bildzeitung stehen, wenn dem so wäre. Und wahrscheinlich habe ich damit sogar Recht. Aber ich war und bin nun mal kein Wunderkind. Sonst weiß ich eigentlich nichts mehr bis zu meinem vierten oder fünften Lebensjahr.

Meine erste Erinnerung ist ziemlich merkwürdig. Wir waren bei Verwandten oder Bekannten, die einen großen Garten hatten mit einem ziemlich kleinen, jedoch für mich riesig groß wirkenden Seerosenteich. Mein Bruder Tom, der drei Jahre älter ist als ich, sprang über diesen Teil, weil er zu dem Tisch wollte, an dem die Erwachsenen saßen. Ich wollte dann unbedingt hinterher, kam allerdings nicht auf die Idee, um den Teich herumzulaufen, sprang und fiel - wie konnte es auch anders sein – ins Wasser. Weiter weiß ich nicht, aber sie haben mich sicher rausgefischt und ich heulte bestimmt fürchterlich. Dann herrscht wieder eine ganze Weile Dunkel, bis ich schließlich in die Schule kam.

Ich kann mich noch ziemlich genau daran erinnern. Am Tag vorher gingen wir eine Schultüte kaufen, denn die, die meine Schwester Liane im Vorjahr zum Schulanfang bekommen hatte, wollte ich nicht. Ich habe gequengelt und gebettelt und schließlich hatte ich meine Mutter soweit. Wir gingen also los. In dem Schreibwarengeschäft6 zwei Straßen weiter fanden wir, oder besser gesagt, fand ich dann eine Schultüte, die mir gefiel. Sie war aus Stoff mit vielen kleinen Katzen darauf auf hellblauem Untergrund. Ich hatte mich sofort in die Tüte verliebt. Mama behauptete zwar sie sie viel zu teuer, doch das war mir egal und die Tüte ließ ich mir erst recht nicht wieder abnehmen. Also bezahlte Mama seufzend und zog mich aus dem Laden. Ich hielt triumphierend die Schultüte im Arm und stolzierte nach Hause.

Am Abend war ich so aufgeregt und zappelig, dass ich nicht einschlafen konnte. Eine Weile lag ich im Bett und störte andauernd meine Schwester, die mit mir im selben Zimmer schlief. Doch dann waren wir beide still und bald hörte ich Liane ruhig und gleichmäßig atmen. Als ich nach ewiger Zeit immer noch nicht schlafen konnte, stand ich leise auf und ging ans Fenster. Es war dunkel und die Scheibe wunderbar kühl. Es war Vollmond und mir wurde ein bisschen gruselig. Ich stand da, mir fröstelte und plötzlich entdeckte ich einen Stern, der mir auf merkwürdige Weise zublinkte. Es erfasste mich ein eisiger, gespenstischer Hauch. Alles war kalt und leer. Ich war völlig allein. Nur der Stern blinkte warm und freundlich. Doch er war unfassbar weit fort und ich dachte Gedanken, die nicht meine eigenen waren. Ich verlor mich auf merkwürdige Weise in die Tiefe allen Denkens, versank in der Stille und Einsamkeit der Nacht. All dies schien mich erdrücken zu wollen und ich bekam unheimlich Angst. Schnell wandte ich mich ab, kroch unter meine Bettdecke und presste Teddy, meinen Bären, fest an mich. Nach einer Zeit angespannter Furcht hörte ich, wie meine Eltern zu Bett gingen. Ich wurde ganz ruhig, war plötzlich furchtbar müde und schlief ein.

Als mich Mama am nächsten Morgen weckte, war das alles vergessen und ich war sofort hellwach, denn ich sollte ja heute in die Schule gehen. Aber erst kam das lästige Waschen und Zähneputzen. Von meinem Frühstück ließ ich die Hälfte stehen, so aufgeregt war ich. Und dann ging es los. Ungeduldig ließ ich es über mich ergehen, dass Mama mein Haar kämmte, mich in einen Mantel zwängte, natürlich in den ekligen braunen, den ich nicht ausstehen konnte, und endlich durfte ich meinen schönen, neuen Schulranzen aufsetzen, meine mit Leckereien angefüllte Schultüte nehmen und mit Mama aus dem Haus gehen. Bald waren wir an der Schule, in deren Schulhof viele andere Kinder mit ihren Müttern oder Vätern standen. Und natürlich hatten sie alle eine Schultüte und einen neuen Schulranzen wie ich. Meine Sachen fand ich natürlich am schönsten.

Später gingen wir dann alle zu einer Eröffnungsfeier in die Turnhalle. Zuerst sagte jemand etwas und dann wurde uns ein Kasperltheater aufgeführt. Dann redete ein Mann zu uns, den ich erst für einen Clown hielt, weil er so lustig aussah. Doch Mama sagte mir, das sei der Direktor. Was mich nicht sehr beeindruckte, da ich mit der Bezeichnung nicht viel anfangen konnte. Jedenfalls fand ich diesen Direktor-Clown sehr nett. Nach der Rede wurden wir in unsere Klassen aufgeteilt. Leider kannte ich keines der Kinder, aber eigentlich war mir das egal. Und dann kam der Zeitpunkt, an dem wir unsere Eltern verlassen mussten, um mit der Lehrerin zu gehen. (Keine Klasse hatte einen Lehrer.) Ich bekam ein bisschen Angst, die aber im nächsten Augenblick von meiner Neugierde wie fortgewischt war.
Bald saßen wir brav in unserem Klassenzimmer. Jeder Schultüte und Schulranzen stolz vor sich auf den Tisch gelegt. Die Lehrerin stand vorn und wir alle schauten gespannt zu ihr, als sie uns ein ganze Menge über die Schule und was wir alles lernen werden, erzählte. Danach gab sie jedem von uns einen Bogen weißes Papier und wir sollten etwas zeichnen. Ich packte meine neuen, schönen Buntstifte aus und begann eifrig an einer Schule mit Vorgarten herumzukritzeln, als ich bemerkte, dass der Junge neben mir gar nicht malte, sondern nur missmutig vor sich hinstarrte. Vor ihm stand ein zerkratzter Metallkasten, der mit verschieden langen Buntstiften angefüllt war. Wahrscheinlich hatte er die von seiner älteren Schwester oder Bruder bekommen. Er tat mir ein bisschen leid und ich hatte auch eine Idee wie ich ihn ein bisschen fröhlicher hätte machen können, doch das fiel mir verdammt schwer.
Nach einer Weile gab ich mir schließlich einen Ruck, reichte ihm meine Buntstifte und sagte: "Wollen wir tauschen?" Der Junge schaute mich eine Weile an. Plötzlich glitt ein Lächeln über sein Gesicht und er reichte mir seine zerkratzte Kiste.

Als ich dann später mit meiner Mutter nach Hause gegangen war, packte ich den Ranzen aus und Mama sah den alten Kasten. Sie regte sich furchtbar auf und wollte wissen, wo ich die neuen, teuren Buntstifte gelassen hatte. Sie glaubte, ich hätte sie aus Versehen vertauscht und es war schwierig ihr alles richtig zu erklären. Als sie es dann kapiert hatte, schaute sie mich merkwürdig an und lachte. "Du Dummerle", sagte sie nur.

In nächster Zeit ging ich gerne in die Schule. Ich hatte mich mit meinem Banknachbarn angefreundet. Er hieß übrigens Peter und kam aus einem Kinderheim. Ich habe nie genau gewusst, was das ist und irgendwie fand ich wohl deshalb nichts Schlimmes dabei. Jedenfalls war er ein guter Kumpel. Und herrlich frech konnte er auch sein. Dies brachte mich dann auch in ziemliche Schwierigkeiten. Es war gegen Ende des ersten Schuljahres, als ich schon gut lesen konnte. Ich hatte nämlich in einem Buch gelesen (es war, glaube ich, von Christine Nöstlinger), dass man Schlüssellöcher mit Uhu verkleben konnte. Irgendwann erzählte ich das Peter und wir beschlossen, das Schloss unserer Klassentür zu verkleben. Nur stießen wir dabei auf ein Hindernis, die Klassentür hatte ein Zylinderschloss. Also so ein Schloss, in das man keinen Klebstoff hineindrücken kann. Aus diesem Grund kamen wir auf die idiotische Idee, das Eingangsportal der Schule zu verkleben. Gesagt, getan. Wir kauften uns am Nachmittag von unserem Taschengeld eine große Tube Uhu und schlichen gleich zur Schule. Wir machten ein riesiges Abenteuer aus der Sache, denn wir kletterten über den Zaun, obwohl das Schultor nicht abgeschlossen war und schlichen wie die Indianer (glaubten wir jedenfalls), damit uns ja der Hausmeister nicht erwischte. Schließlich waren wir an der Tür, versicherten uns, dass sie zugeschlossen war und verklebten das Schlüsselloch kunstgerecht. Als die Uhu-Tube leer war, traten wir den Rückzug an. Doch wir hatten Pech. Der Hausmeister entdeckte uns, als wir gerade wieder über den Zaun klettern wollten. Er brüllte hinter uns her, wir wären Gören und eine Saubande, obwohl er noch gar nicht wissen konnte, dass wir das Schloss unbrauchbar gemacht hatten. Kurz bevor er uns erreichte, waren wir auf der anderen Seite des Zaunes und rannten wie verrückt davon. An dem Eingang des Hauses, wo ich immer noch wohne, blieben wir nach Luft schnappend stehen. Wir gingen ins Treppenhaus und setzten uns auf die Stufen. Wir überlegten uns, ob uns der Hausmeister erkannt hatte. Es war immerhin möglich, weil wir immer bei ihm Milch kauften. Na ja, uns war jedenfalls ziemlich unbehaglich zumute, doch nach einer Weile fingen wir wieder an rumzualbern und uns über unseren Streich fast totzulachen. Wir gingen dann noch bei mir in den Hof und probierten aus, wer auf den einzigen Baum dort am höchsten klettern und am weitesten spucken konnte. Um halb sechs musste Peter dann gehen, also ging ich nach oben und leistete meiner Mutter, meiner Schwester und meinem Bruder Gesellschaft, die zusammen Märchen lasen. Einmal musste Mama lesen, einmal Tom und einmal Liane. Ich wurde davon entbunden, wie ich keine Lust hatte zu lesen.

Abends im Bett fiel mir meine Schandtat wieder ein und ich konnte lange nicht einschlafen. Am nächsten Morgen versuchte ich Bauchschmerzen zu simulieren, doch glaubte mir meine Mutter nicht, obwohl mir wirklich schon ganz schlecht war vor Angst. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als schön langsam in Richtung Schule zu trotten. In der Schule drängelte sich alles auf dem Hof und am Schulportal standen der Hausmeister, der Direktor - er sah gar nicht mehr so freundlich aus - und alle Lehrerinnen. Gerade versuchte die junge Musiklehrerin, sie hieß Oktavia Meyer (später hat sie sich einen Mann gesucht, dessen Nachname besser als der ihre zu ihrem Vornamen passte), den Klebstoff aus dem Türschloss zu bekommen. Ich schaute eine Weile zu und mir wurde immer übler zumute, dann suchte ich Peter und fand ihn auch. Wir schauten uns nur stumm und ängstlich an, keiner sagte ein Wort.

Am Portal berieten sich die Lehrer, was nun zu tun sei, während jetzt der Hausmeister am Schloss fuhrwerkte. Schließlich kam man auf die Idee einen Schlosser zu rufen und die Schüler nach Hause zu schicken. Doch bevor wir gehen durften, bat der Direktor um Ruhe und hielt eine Rede. Sie klang allerdings nicht mehr so freundlich. Jedenfalls forderte er den oder die Schuldigen auf, sich freiwillig zu melden. Es meldete sich jedoch keiner. Also wurden schließlich alle Schüler nach Hause geschickt. Nur Peter und ich blieben stehen und warteten bis alle fort waren, dann gingen wir zum Direktor und sagten ihm, dass wir die Tür verklebt hätten. Erst war er ziemlich erstaunt und dann wurde er wütend. Er sagte, es wäre eine Schande, dass so kleine Kinder schon... und dass er unsere Eltern sprechen wollte.

Als er dann mit meinen Eltern gesprochen hatte, waren die an der Reihe sauer zu sein und das waren sie auch. Mama hat sich furchtbar aufgeregt, weil sie mit dem Direktor hat sprechen müssen. Sie ist krank geworden von der Aufregung und musste einen ganzen Tag im Bett liegen. Vater war unheimlich böse. Er sagte, es wäre furchtbar, wie ich mich benähme und dass Mama sich gerade jetzt nicht aufregen dürfe, weil sie ein Kind bekommen würde. Ich hatte die ganze Zeit über geheult, als sie geschimpft hatten, aber jetzt wurde ich zornig. Ich fand es ungerecht, dass er mir jetzt Mamas Kind vorhielt. Schließlich hatte ich gar nicht gewusst, dass sie eins bekommen sollte. Er hätte ja sagen können, dass das, was wir getan habe, kein Scherz mehr ist, Geld kostet und riesige Unannehmlichkeiten macht, aber nein, er musste das Baby als Grund anführen, warum ich diese Dummheit nicht hätte machen dürfen. Ich habe ihm das auch gesagt, aber weil ich zornig war und er zornig war, hat er mich wohl nicht so richtig verstanden. Er wurde nur noch zorniger und ohrfeigte mich. In dem Moment habe ich aufgehört zu weinen. Ich war furchtbar erschrocken, wie konnte mein Vater mich schlagen? Einen ganzen Augenblick war es totenstill, ich fühlte überhaupt nichts in der Zeit. Ich konnte und wollte nicht mehr heulen. Konnte ich denn jetzt noch weinen, weil mir alles Leid tat? Nein, bestimmt nicht! Jetzt tat mir gar nichts mehr leid. Ich hatte doch schon längst begriffen, dass man niemandem vorsätzlich einen gemeinen Streich spielt. Wären denn sonst Peter und ich zum Direktor gegangen? Aber das kapierten sie ja nicht. Sie konnten einen ja nur schlagen, als ob man deshalb vernünftiger würde. Es nützte doch nur ihnen (ich dachte schon an alle Erwachsenen stellvertretend für meinen Vater). Sie konnten ihren Ärger ablassen und mir Ärger aufhalsen. Und dann beschloss ich sie zu hassen, alle Erwachsenen und meine Eltern. Kein Wort mehr wollte ich mit ihnen sprechen, sollten sie doch sehen, wenn ich nicht mehr mit ihnen rede.

Ich habe es dann nur drei Tage durchgehalten zu schweigen. Auch in der Schule, wo es mir sowieso nicht Recht gewesen wäre, mich durch Reden hervorzutun. Am ersten und zweiten Tag waren meine Eltern noch so böse auf mich, dass sie gar nicht merkten, dass ich nicht mit ihnen sprach. Eher noch schienen sie selbst nicht mit mir reden zu wollen. Doch am dritten Tag zeigte sich endlich Erfolg. Ich hatte es geschafft. Nicht mehr sie bestraften mich, sondern ich bestrafte sie (jedenfalls fast). Ihnen fiel auf, dass ich seit zwei Tagen keinen Ton von mir gegeben hatte und sie versuchten mit mir zu sprechen. Erst Belangloses, dann stichelten sie und wollten mich wütend machen. Es war nicht einfach, aber ich sagte immer noch nichts. Als sie dann anfingen Witze zu reißen, um mich zum Lachen zu bringen, hielt ich es nicht mehr aus. Ich war wütend. Mussten meine Eltern denn solche blöden Tricks anwenden, um mich zum Sprechen zu bringen. Konnten sie nicht sagen: "Schau mal, sei uns nicht böse, dass wir mit dir geschimpft haben, ab er du musst uns auch verstehen und schließlich war es eine Riesendummheit, die du mit deinem Freund angestellt hast. Du musst eben nur verstehen, dass die Dummheit wirklich eine Dummheit war." Irgendwas in der Art hätten sie sagen sollen, nicht versuchen mich aufzuheitern, nicht so tun, als wäre gar nichts passiert. Natürlich konnte ich das Gefühl, dass mich damals überkam, noch nicht richtig erklären und in Worte fassen, deshalb fing ich einfach an zu heulen. Vor Wut und weil ich dachte, meine Eltern hätten mich nicht mehr liebe. Und jetzt war alles wieder in Ordnung. Sie waren nicht mehr böse auf mich und haben mich getröstet. Wir haben uns wieder vertragen.

Vielleicht habe ich damals die ganze Geschichte noch mehr aus meinem kindlichen Standpunkt heraus erlebt als ich sie jetzt aufgeschrieben habe. Ich weiß nicht genau, es tut mir nur leid, dass ich keine Zeit habe, erwachsen zu werden und diese Welt kennen zu lernen. Aber vielleicht bemerkt man den Unterschied kaum, weil die Wandlung vom Kind zum Erwachsenen langsam vor sich geht. Es ist vielleicht gar nicht so, dass man seine Kindheit ablegen kann wie einen alten Hut – wie Kästner schreibt. Sie entgleitet einem nur, man betrachtet dann seine Kindheit aus dem Erwachsenenstandpunkt und glaubt am Ende wohl fast als Kind schon erwachsen gewesen zu sein. Wahrscheinlich hat Kästner so was Ähnliches gemeint. Ich entschuldige mich also hiermit für meinen Zweifel an seinen Worten, weil ich es auch nicht besser ausdrücken kann. Nun aber zurück zu meinen Grundschuljahren. Nach meinem glorreichen Streich hatten sich bald wieder normale Verhältnisse eingestellt. Bis Niklas kam. Es war, glaube ich, an einem Donnerstag- oder Freitagmorgen als wir Kinder von Papa geweckt wurden und Mama weg war. Während er schnell für uns Frühstück machte, erzählte er, er hätte sie ins Krankenhaus bringen müssen. Wir waren furchtbar aufgeregt und ich bekam ein bisschen Angst, es könne etwas schief gehen wegen der Sache damals. Aber ich beruhigte mich bald. Papa schickte uns in die Schule, weil er uns nicht alle drei mit in die Klinik nehmen könne, wie er sagte. In der Schule erzählte ich Peter sofort, dass wir (eigentlich meine Mutter) ein Kind bekommen würden. ER zeigte sich nicht sehr beeindruckt, wahrscheinlich weil er ein bisschen neidisch und traurig war, da er selbst keine Mutter mehr hatte, jedenfalls keine, die sich um ihn kümmerte.

Als ich dann mittags nach Hause kam, war Papa im Krankenhaus bei Mama und unsere Nachbarin kochte für uns. Wir waren alle aufgeregt und zappelig und stritten uns, ob Mama einen Jungen oder ein Mädchen bekommen würde. Tom und ich waren für Junge und Liane für Mädchen, obwohl sie sagte, sie wolle nicht noch so eine Schwester wie mich. (Ich hatte ihr nämlich am Tag vorher eine Puppe kaputt gemacht.) Nach dem Essen saßen wir zwei Stunden lang herum und warteten, dass Papa anrief, dann wurde es uns zu dumm und Liane und ich fingen an mit Holzbausteinen und Lego zu spielen. Nur Tom musste Hausaufgaben machen, er war schließlich schon im Gymnasium. Später hat Papa dann doch angerufen. Er hat aber nur gesagt, er wüsste selbst noch nichts Genaues. Am Abend mussten wir dann ins Bett, weil die Nachbarin meinte wir könnte nicht die ganze Nacht aufbleiben. In der Nacht muss Papa angerufen haben, ich habe allerdings nichts davon gemerkt. Nur am nächsten Morgen hat mich Tom ziemlich früh geweckt. Er rannte durch Lianes und mein Zimmer und brüllte: "Es ist ein Junge! Juhu, ich hab’ Recht gehabt" Ich bin also davon aufgewacht und gleich mitgehüpft, nur Liane war beleidigt. Sie hatte doch gesagt, es werde ein Mädchen. Ein paar Tage mussten wir ohne Mama auskommen. Aber am nächsten Mittwoch war sie wieder daheim und brachte ein kleines, fast immer schreiendes Bündel mit. Wir waren, glaube ich, ziemlich enttäuscht, zumindest ich hatte mir das Baby irgendwie anders vorgestellt. Außerdem kümmerte sich Mama andauernd um Niklas. Mit ihm spielen konnte man auch noch nicht. Es war also ziemlich schrecklich bis er etwa zwei Jahre alt war. Ich war schon in der vierten Klasse und viel vernünftiger. Inzwischen waren Peter und ich nicht mehr sehr gut befreundet. Ich hatte jetzt zwei"beste" Freundinnen. Die eine hieß Hannelore, die andere Annemarie, allerdings nannte ich sie immer Anne und Hanne. Wir saßen in der Schule zusammen, schrieben ständig voneinander ab, schwätzten, wurden ermahnt und schwätzten wieder. Ich wundere mich, dass ich überhaupt etwas gelernt habe. Fast jeden Nachmittag trafen wir uns zum Spielen und Streiten. Natürlich übertreibe ich ein wenig, ein wenig viel und weiß selbst nicht so genau warum. Nein, ich weiß es schon, nur will ich nicht alles einfach so erzählen. Ich habe dann oft das Gefühl, andere Leute hätten mich in der Hand, wenn sie mich auch von innen kennen. Aber eigentlich ist es jetzt egal, weil ich ja sterbe. Früher wollten Hanne, Anne und ich immer eine Wohngemeinschaft gründen, sobald wir groß sind. Es ist komisch, daran zu denken, dass ich nie so groß werde, wie wir uns das früher immer dachten. Es ist alles ganz anders gekommen als es sich alle dachten. Ich dachte auch nicht daran, dass ich sterben könnte, früher. Ich war viel zu sehr mit Leben beschäftigt. [Im Manuskript durchgestrichene Zeilen, Anfang] Und ich bin froh, dass ich ICH bin. Wäre ich jemand anderes, würde ich vielleicht jetzt noch nicht sterben müssen, aber ich wäre doch nicht ich. Ich glaube, ich habe wahnsinnige Angst, nicht mehr ich selbst zu sein. Es wäre schrecklich für mich, wenn ich zum Beispiel verrückt werden würde. [Im Manuskript durchgestrichene Zeilen, Ende] Manchmal stellte ich mir vor, meine Mutter könnte sterben und dann weinte ich immer. Sonst ist eigentlich niemand gestorben in meinen Vorstellungen. Ich hatte nur um meine Mutter so schreckliche Angst. Ich liebe sie wahrscheinlich am meisten von allem auf der Welt - außer mir selbst vielleicht noch. Jedenfalls sagt man immer, man würde sich selbst am meisten lieben. Aber eigentlich ist mir das noch nie aufgefallen. Ich glaube, man kann sich selbst gar nicht wirklich lieben, weil man sich doch schon immer kennt und es einfach keine Frage ist, ob man sich liebt oder hasst. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht. Ich bin ich. Und das ist alles. Mir fällt gerade ein, dass ich meine Memoiren schreiben wollte und stattdessen erzähl' ich irgendeinen Mist, den ich selbst nicht richtig verstehe. Aber vielleicht ist das auch wichtig. Alle meine Gedanken gehören zu meinem Leben, auch wenn ich sie gerade erst jetzt denke und aufschreibe. Manchmal habe ich das Gefühl, ich müsste einfach alles aufschreiben, was ich denke, fühle und woran ich mich erinnere. Es ist, als müsse man sich selbst aufs Papier bringen, um sich selbst zurückzulassen. Es wird aber immer noch Dinge geben, die mit mir sterben werden. Das ist wohl bei jedem Menschen so. Vielleicht wird in 10 Jahren niemand mehr an mich denken.
Bei meiner Oma im Dorf kannte ich einen Jungen, dessen Bruder gestorben ist als er noch ziemlich klein war. Ich habe ihn nie kennen gelernt, aber ich weiß, dass er gelebt hat. Und als ich es damals erfuhr, dass er tot ist, war ich traurig, obwohl ich ihn gar nicht gekannt hatte. Es war sehr merkwürdig. Es kam oft bei mir vor, dass mir Leute, die gestorben waren und die ich nicht kannte, mehr Leid taten als der Tod von jemandem den ich kannte. Einmal war ich auf einer Beerdigung, unser Nachbar war gestorben. Weil meine Mutter weinte, dachte ich, man müsste heulen auf einer Beerdigung, und ich weinte auch. Ich weinte ohne Trauer, ich hatte unsern Nachbarn ganz gern gemocht, aber er fehlte mir nicht. Warum mir jemand fehlt, den ich nie gekannt habe, weiß ich nicht. Ich gerate mit meinen Memoiren in Unordnung und erzähle alles durcheinander. Eigentlich wollte ich schön geordnet erzählen, aber Erinnerungen kommen nie geordnet hervor. Mich stört so was immer in einem Buch, wenn die Erinnerungen von jemandem erzählt werden, und es kommt alles ganz durcheinander. Jetzt weiß ich, warum man nicht geordnet erzählen kann.

Es kommt mir schon fast so vor als bestände mein ganzer Lebensinhalt darin, diese Memoiren zu schreiben, Bücher zu leben oder fern zu sehen. Ich möchte gerne etwas lernen, aber es scheint so idiotisch, ich werde sowieso bald sterben. Am Anfang hat mir meine Freundin Karin immer noch die Hausaufgaben gebracht, doch nach einer Weile hatte sie es gelassen. Gerade eben bevor ich zu schreiben begonnen habe, war sie hier (oh Gott, meine Memoiren geraten zu einem Tagebuch). Sie kam herein, so unheimlich fröhlich und voller Dinge, die sie mir erzählen wollte. Wir fingen an uns zu unterhalten, schließlich erzählte nur noch sie, aus der Schule, was sie am Wochenende erlebt hatte usw. Plötzlich wurde es mir zuviel, ich musste hier im Bett lieben, durfte kaum aufstehen, konnte nur ein Stück Himmel durch ein Fenster sehen und Sie? Ich wurde neidisch, wütend und bekam Angst. Irgendwie fingen wir dann an zu streiten. Ich war ziemlich gemein zu ihr und als sie etwas überstürzt gegangen ist, war sie kein bisschen mehr fröhlich. Sie kam mir fast vor wie ein Ball, aus dem man die Luft heraus gelassen hatte. Ich glaube, ich werde sie anrufen und mich entschuldigen. Vielleicht sollte ich ihr sagen, dass ich sterben muss. Vielleicht lieber doch nicht.

Jetzt will ich endlich mit meinen Memoiren fortfahren, in ordentlicher Reihenfolge. Ich war bei Hanne und Anne stehen geblieben. Und verband eine merkwürdige Freundschaft. Es war eine richtige Dreiecksbeziehung. Die meiste Zeit vertrugen wir uns, doch dann stritten wir uns auch wieder ganz fürchterlich. Wehe, eine von uns dreien wurden von den anderen beiden vernachlässigt, sofort war die eine eingeschnappt. Es gab immer Streit und Eifersüchteleien zwischen uns. Und doch waren wir sehr gute Freundinnen. Bis wir aus der Grundschule in drei verschiedene Schulen kamen, Anne dann auch noch wegzog und ich endgültig krank wurde. Doch bis dahin waren wir im Großen und Ganzen unzertrennlich, obwohl ich auch manchmal mit anderen Klassenkameradinnen ganz gut befreundet war und einmal auch mit einem Jungen. Er hieß Sebastian und irgendwie hatten wir uns angefreundet. Anne und Hanne waren ziemlich sauer, dass ich nicht mehr nur ihre Freundin war und fanden es wohl auch blöd sich mit einem Jungen abzugeben. Jedenfalls währte die Freundschaft zwischen Sebastian und mir nicht lange. Es war wohl auch unsere Lehrerin etwas daran schuld, weil sie dauernd meckerte, wenn Sebastian und ich schwätzten. Als ich vorher mit Anne und Hanne zusammen gesessen hatte, hatte sie nicht so oft geschimpft. Ich weiß nur, dass unsere Freundschaft kurz nach meinem Geburtstag aufhörte. Ich hatte Sebastian dazu eingeladen und er kam viel zu spät, weil er mir ein ganz tolles Geschenk gekauft hatte. Eine neue Barbiepuppe und Barbiezelt samt Zubehör. Es muss wahnsinnig teuer gewesen sein. Ein halbes Jahr später wurde ich zu seinem Geburtstag eingeladen. Wir konnten uns nicht mehr besonders gut leiden, es war wohl mehr anstandshalber. Ich langweilte mich etwas auf der Feier und war dementsprechend brav und höflich. Die Mutter hat mich sicher nett und wohlerzogen gefunden. Später waren Anne und ich beide mit einem Jungen befreundet, der auch Sebastian hieß. Wir gingen oft mit ihm, seinem Freund und natürlich Hanne auf den Spielplatz, wir machten viel Fez und hatten Spaß zusammen. Kraxelten auf Bäumen herum, gingen im Regen spazieren und waren einfach glücklich. Als wir dann aus der Grundschule kamen, flaute diese Freundschaft langsam ab. Nur die Freundschaft mit Anne, Hanne und mir bestand noch, doch gleichzeitig befreundete ich mich in der neuen Schule mit Karin. Unsere Freundschaft war und ist echt prima. Wir haben uns erst zweimal gestritten und verstehen uns einfach gut. Im zweiten Halbjahr des fünften Schuljahres kam es dann, dass ich immer solche Schmerzen in der Brust und im Bauch hatte. Mama ging mit mir zum Arzt, der schickte mich ins Krankenhaus. Ich musste operiert werden. Mama sagte, an der Lunge und es wäre nicht so schlimm. Im Prinzip hatte sie Recht, es war wirklich nicht so schlimm. Ich hatte nach der Operation, als ich aufwachte gar keine Schmerzen. Ich lag in so einer Art Operationssaalvorzimmer. Eine Krankenschwester saß an einem Schreibtisch und ich fragte sie, ob ich etwas zu trinken haben könnte, und schlief ein, bevor sie antwortete. Ich hörte nur eine andere Frischoperierte furchtbar stöhnen. Später wachte ich in einem Krankenzimmer auf, meine Mutter war das und das beruhigte mich ungemein. Ich sagte ihr, dass es mir gut ginge und wir unterhielten uns ein bisschen, nach fünf Minuten musste sie wieder gehen. Ich bin dann wieder eingeschlafen. Als ich aufgewacht bin, merkte ich, dass jemand in meinem Zimmer lag. Es war die, die so gestöhnt hatte. Sie schlief noch. Um mein Bett war ein niedriges Gitter. Ich durfte also nicht aufstehen, hinter dem Nachttisch war ein Klingelknopf angebracht. Ich musste mal auf die Toilette. Ich läutete. Eine Schwester kam nach einer Weile, ich sagte ihr, dass ich auf Toilette müsste. Sie kam mit der Bettpfanne. Ich fand dieses Ding sehr idiotisch, war jedoch einige Tage gezwungen es zu benutzen. Endlich durfte ich aufstehen. Ich schaute mich erst mal gemeinsam mit meiner Zimmergenossin um. Wir durchstreiften alle Zimmer. Es gab eins für Kleinkinder, ein Jungenzimmer, ein großes Mädchenzimmer und unser Zimmer auf der einen Seite, auf der anderen gab es glaube ich nur ein oder zwei Zimmer für die Patienten, der Rest war für die Schwestern und Pfleger. Ich fand es ziemlich langweilig im Krankenhaus und manchmal sogar schrecklich. Schrecklich fand ich es allerdings erst, als ich in das große Mädchenzimmer verlegt wurde. Alle Mädchen waren mindestens 3-4 Jahre älter als ich und besonders eine, die am Blinddarm operiert worden war, machte mich fertig. Wir hatten andauernd Streit. Und ich war im Nachteil, da ich mich nicht so gut verteidigen konnte. Ich hatte es schon immer gehasst, nicht genauso schlagfertig zu sein meine Gegner.

Wenn ich mich zurückerinnere, kommt mir dieser Krankenhausaufenthalt vor wie ein Traum. Es scheint alles so verschwommen und weit entfernt. Manchmal frage ich mich, warum ich alles aufschreiben will. Um einen Teil meines Lebens zurück zu lassen bestimmt nicht. Ich glaube ja nicht mal daran, dass es möglich wäre. Vielleicht schreibe ich es auch, um mich abzulenken. Denn eins weiß ich genau: Ich will nicht sterben. Mit jeder Sekunde, die mich dem Tod näher bringt, spüre ich das mehr. Aber ich kann nicht ändern, dass ich sterbe. Und eigentlich sollte es mir egal sein, ob ich jetzt oder in fünfzig Jahren sterbe, ist es aber nicht. Leider Gottes. So ein Blödsinn, warum schreibe ich jetzt "Leider Gottes" dahin? Was hat Gott damit zu tun? Was ich nicht will, ist mich an irgendetwas zu klammern, dass mir das Leid erleichtern könnte, nur um der Erleichterung willen. Ich war mein ganzes Leben nicht gläubig und ich empfände es als Heuchelei, mich gerade jetzt bekehren zu lassen. Irgendwie glaube ich, dass Gott nur ein Gott für die Lebenden ist und nicht für die Toten. Wenn man tot ist, ist Gott unwichtig. Wenn man tot ist, lebt man nicht mehr, damit kann Gott nichts mehr für einen tun. Vielleicht habe ich auch Unrecht mit Allem, aber das ist mir egal, weil es mir sowieso nichts mehr schaden kann. Es gibt nichts Schlimmeres als sterben, außer traurig und enttäuscht sterben.

Die ganze Zeit dachte ich, ich schriebe meine Memoiren, doch das stimmt nicht. Die Tatsache, dass man bald sterben wird, ist nicht Berechtigung genug dafür. Wenn man seine Memoiren schreibt, muss man mit dem Leben abgeschlossen haben, Bilanz ziehen können. Man muss das Gefühl haben, dass einem nicht viel Neues passieren könnte. All das trifft nicht auf mich zu. Ich bin wie ein junger Baum, der seine Zweige zwar schon gen Himmel und Sonne reckt, aber noch mit den Großen kämpfen muss und mit einer Maus, die seine Wurzeln auffrisst, so dass er absterben wird, bevor er selbst den jungen Bäumen das Sonnenlicht nehmen kann.

Alles zerfließt und wird zu Nichtigkeiten.

Nur eins bleibt zurück, der Tod und immer wieder der Tod. Und ich schrieb noch vor einigen Wochen, ich hätte keine Angst vor dem Tod. Fast könnte ich darüber lachen, wenn mir nicht nach Weinen zumute wäre. Jetzt müsste man die Gewissheit haben, dass es ihn gibt, den gütigen Gott. Aber was ist gewiss? Der Tod, nur der Tod. Ich möchte schreien und doch bleibe ich stumm. Oh Gott, wenn es dich gibt, dann hilf mir. Wenn es dich gibt, wenn. Nur diese wenn. Alles, was es gibt, ist die Frage, nie erlangt man Gewissheit. Ich habe Angst, vor dem Tod, dem Dunkel, dem Nichts. Ist mein Leben nicht sinnlos geworden durch meinen frühen Tod? Vielleicht, ich weiß es nicht. Keine Gewissheit.

Ich werde sterben an einer Krankheit, deren Namen ich nicht einmal kenne. Ich habe keine Ahnung, warum ich sterbe. Aber es ist auch nicht wichtig. Das wäre eine unnötige Gewissheit. Vielleicht wäre es damals besser gewesen, ich hätte nicht gelauscht. Ich hätte wenigstens jetzt ein friedliches Leben. Vielleicht wäre es auch besser, ich würde mit jemandem darüber reden, dass ich es weiß. Aber irgendetwas hält mich zurück. Vielleicht das Gefühl, dass es mein Problem ist. Ja, hätte ich damals nicht gelauscht. Es war zwar mehr ein Zufall, dass ich es erfahren habe, aber warum soll man an Zufällen nicht selbst Schuld sein. Ich hätte eigentlich schlafen sollen, als sich meine Eltern über meinen Tod unterhalten haben. Sie hatten wohl mehr Angst als ich in dem Moment, als ich es erfuhr. Es war spät nachts und ich hatte bis zwölf Uhr gelesen. Ich hörte, wie sich meine Eltern im Schlafzimmer unterhielten, aber ich verstand nicht, was sie sagten. Also horchte ich (verflucht sei meine Neugier) an der dünnen Trennwand. Ich weiß nicht mehr, was sie genau sagten. Aber sie sprachen darüber, wie unmöglich es schiene, dass ich jetzt schon sterben sollte. Aber der Doktor habe es gesagt und wenn ich es überleben könnte, hätten sie mich nicht nach Hause gelassen. Dann gingen sie zu Bett, nach einiger Zeit hörte ich sie schnarchen. Na ja, sie hatten auch nicht gerade, dass sie sterben müssten. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich kapierte, was meine Eltern gesagt hatten. Ich musste also sterben. Ich fühlte mich irgendwie hilflos, weil ich es nicht wirklich wahr haben wollte. Ich hatte fest geglaubt, ich würde bald wieder gesund sein. Ich war nach einer zweiten und dritten Operation entlassen worden und hatte fest geglaubt, ich müsste mich nur noch ein wenig erholen und wäre wieder vollkommen gesund. Von dieser Nacht an wartete ich darauf, dass meine Eltern mir sagen würden, dass ich sterben müsste. Doch sie taten es nicht. Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, dass sie es nicht mir, aber meinen Geschwistern gesagt haben. Ich glaube, sogar Niklas hat es nach einer Weile mitgekriegt. Denn vor einigen Wochen kam er zu mir und fragte mich, warum man sterben müsse. Ich habe versucht, ihm das zu erklären und ich glaube, er wusste ganze genau, dass ich wusste, dass ich sterben werde.

Jedenfalls ging es mir einige Zeit lang ziemlich gut, nachdem ich aus dem Krankenhaus gekommen war und von meinem unausweichlichen, baldigen Tod erfahren hatte. Ich konnte sogar aufstehen und gab zu meinem dreizehnten Geburtstag ein Fest, aber in die Schule ging ich nicht wieder. Zu der Geburtstagsfeier hatte ich Karin, Anne, Hanne und zwei Mädchen aus meiner ehemaligen Schulklasse eingeladen. Es war schön, wir machten eine Kuchenschlacht, spielten und unterhielten uns. Ich glaubte an diesem Tag nicht mehr so ganz daran, dass ich wirklich sterben würde. Doch schon einige Tage später wurde ich schmerzlich daran erinnert. Ich hatte furchtbare Schmerzen, der Arzt wurde gerufen, ich bekam eine Spritze und schlief bald ein. Aber diesem Tag musste ich fast immer im Bett liegen. Ich hatte viel Zeit zu lesen und nachzudenken. Allein war ich eigentlich nie. Immer war irgendjemand da, mit dem ich mich, wenn ich wollte, unterhalten konnte. Ich verstand mich jetzt auch viel besser mit meinen Geschwistern. Wir stritten uns nicht mehr. Besonders die Beziehung zu meinem Bruder Tom hat sich geändert. Wir haben uns früher nicht sehr gemocht, aber jetzt war es irgendwie anders. Nicht, dass wir jetzt über alles miteinander reden konnten, aber wir mochten uns einfach mehr. Ich habe sogar das Gefühl, ich habe nie mehr geliebt als gerade jetzt. Ich habe manchmal das Gefühl, ich müsste die ganze Welt umarmen. Ich fühle mich unheimlich glücklich, obwohl ich doch bald sterben werde. Eigentlich ist das Leben nicht schrecklicher geworden, weil ich bald sterben muss. Der Tod hat nicht seine Schatten über mein Leben geworfen. Obwohl ich manchmal Angst habe, ist mein Leben schön. Ja, erst jetzt spüre ich, wie wunderbar es ist, das Leben zu spüren. Ich lebe erst jetzt wirklich, jetzt, da ich erfahre, was für eine Gnade es ist, überhaupt nur so alt zu werden, wie ich jetzt bin. Auch wenn mir mein Leben sinnlos erscheint, so ist es doch schön. Das Leben ist es wert, dass man irgendwann einmal sterben muss.
Es ist merkwürdig, dass ich das Leben so liebe, trotzdem ich krank bin. Sterben müssen wir alle, doch es dauert nicht bei allen so lang. Aber vielleicht genießt man das Leben gerade deshalb noch.

Wenn ich überlegen würde, würde mir sicher vieles einfallen, was ich aus meinem Leben erzählen könnte. Aber ich fürchte, nichts davon ist so bedeutsam wie es mein Tod sein wird. Es ist schade, dass ich so jung sterben muss, aber es ist auch kein besonders großes Unglück. Wohl keiner ist bereit zu sterben. Niemand stirbt gerne und doch stirbt jeder irgendwann und irgendwie.

Heute ist dieses irgendwann. Es ist der 23. August 1983, der Tag an dem ich sterben werde. Ich fühle, ich spüre und ich weiß es. Ich merke, dass es zu Ende geht, ich möchte weinen und ich tue es. Mich packt eine schreckliche Angst. War das wirklich ich, die gestern geschrieben hat, sie glaube, das Leben wäre es wert gewesen dafür zu sterben. Ich möchte nicht sterben und doch muss ich es. Jetzt möchte ich mit jemandem sprechen. Ich will, dass alle wissen, dass ich es schon lange wusste. Ich möchte es in die Welt hinausschreien. "Seht ihr, ich sterbe!" Aber irgendetwas hindert mich daran, es jetzt noch jemandem zu sagen.
Plötzlich muss ich an eine Geschichte denken, von einem Mann, der auch sterben musste und das so stilvoll wie möglich. Er wusste nicht, welche letzten Worte er sagen sollten, er konnte sich nicht entscheiden zwischen einem röchelnden "mehr Licht" und etwas anderem, dass ich vergessen habe. Das mit dem "mehr Licht" ging nicht, weil es schon hell in seinem Zimmer war. Am Schluss hat er jedenfalls nur noch geflucht und ist gestorben. Ich weiß eigentlich nicht, wie ich sterben will oder werde. Es ist mir auch egal. Das einzige, was mich beunruhigt, ist, dass mich jemand tot finden wird. Es muss schrecklich sein, einen tot zu finden. Wenn ich mir vorstelle, wie Mama vielleicht mit dem Essen hereinkommt und mich tot im Bett liegen sieht. Ich wüsste gerne, ob sie den Teller fallen lässt oder ihn erst abstellt, bevor sie erschrickt. Wenn es nicht zum Weinen wäre, würde ich lachen.
Heute werde ich sterben. Ich kenne das Wann, aber nicht das Wie. Das Schreiben lenkt mich doch nicht ganz ab, aber irgendwie scheint die Angst jetzt verschwunden und indem ich das schreibe, lüge ich. Die Angst ist nicht verschwunden, sie sitzt tief in mir.
Der Tod ist die Abwesenheit von Liebe. Vielleicht deshalb Gott, der gütige Gott, in dessen Himmel man kommt, der einen liebt und man liebt ihn. Ich habe Angst. Ich werde alle und alles verlieren, was ich liebe. Doch ohne Leben hätte ich nie Leben können. Es ist schwer sich vorzustellen, dass man tot daliegt und es ist schrecklich, wenn man es kann.
Tod muss wie eine ewige Lähmung sein. Ich will nicht sterben, ich will leben. Irgendwann werde ich zu Staub zerfallen sein - und doch - es war es wert.

Ihre Mutter brachte das Abendessen früher als gewöhnlich. Der Teller zerbrach, als er zur Erde fiel.
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Maranatas Tod ist der erste "Roman", den die Autorin geschrieben hat im zarten Alter von 13 Jahren. Sie hat sich damals sehr intensiv mit dem Thema Tod auseinandergesetzt, da sie in dem Alter irgendwann entdeckte, dass sie einmal einen Großvater hatte, denn sie niemals kennen gelernt hat. Er ist bereits acht Jahre vor ihrer Geburt gestorben. Daraufhin hat sich die Autorin sehr viele Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht. Um den Versuch einer Antwort geht es in ihrer Geschichte. Geschrieben hat sie damals mit dem Füller (wahrscheinlich ein Geha) in roter, grüner, lilafarbener und blauer Tinte in ein großkariertes Heft, auf dem vorn eine Mickey Mouse drauf ist. Das Original hat sie gerade vor sich liegen und wird es nun für sich und ihre geneigten Leser übertragen. Sie schwört, dass sie keinerlei Veränderung vornehmen wird. Sie lesen also die Transkription der Originalfassung von 1983. Kurzgeschichten

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Das Nähschränkchen
Am Morgen des 26. August 1914 stand Gertrude Banz sehr früh auf. Sie hatte ihrer Schwiegertochter versprochen die Bordüren an die neuen Kleider ihrer beiden Enkelinnen zu nähen. Dazu wollte sie das Morgenlicht nutzen, denn ihre Augen waren nicht mehr so gut wie einst. Gertrude war seit einem Jahr Witwe. Ihr Herrmann war fast genau auf den Tag vor einem Jahr von einem Pferdefuhrwerk überrollt worden.

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Kurzgeschichten

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Das Nähschränkchen
Am Morgen des 26. August 1914 stand Gertrude Banz sehr früh auf. Sie hatte ihrer Schwiegertochter versprochen die Bordüren an die neuen Kleider ihrer beiden Enkelinnen zu nähen. Dazu wollte sie das Morgenlicht nutzen, denn ihre Augen waren nicht mehr so gut wie einst. Gertrude war seit einem Jahr Witwe. Ihr Herrmann war fast genau auf den Tag vor einem Jahr von einem Pferdefuhrwerk überrollt worden.

Ein Glück immerhin, dass Alfons, ihr Sohn, die Tischlerwerkstatt des Vaters weiterführen konnte. Aber nun gab es Krieg. Gertrude hoffte, dass der so schnell vorbeiging wie anno 70/71. Damals war sie noch jung gewesen, gerade verheiratet. Sie lächelte fein vor sich hin, wenn sie an ihren Herrmann dachte. Er war so ein arbeitsamer Mann gewesen, arbeitsam und schweigsam, aber ein guter Mann. Zu der Zeit als sie geheiratet hatten, hatte er vor allem wunderschöne, zierliche Möbel gebaut. Auch das Nähschränkchen, aus dessen Schublade sie gerade die Bordüren und Nadel und Faden hervorsuchte, stammte aus dieser Zeit.

"Ach, nein!" überlegte sie, das kunstvolle Nähschränkchen war Herrmanns Meisterstück gewesen und noch vor ihrer Hochzeit entstanden. Und jetzt 45 Jahre später tat es immer noch seinen Dienst. Es waren kaum Alters- oder Gebrauchsspuren zu sehen. Das war der Achtsamkeit zu verdanken, mit der es von allen behandelt wurde, und der "Wundersamen Banzschen Möbeltinktur für alle dunklen Hölzer 'frischt auf und pflegt'" nach einem Geheimrezept von Herrmann. Leider war dieses Rezept mit Herrmann zu Grabe getragen worden. Vor seinem Tode war er nicht mehr zu Bewusstsein gekommen. Später dann hatten Gertrude und ihr Sohn Alfons alles durchsucht, das Haus, die Werkstatt, aber hatten kein Rezept für die Tinktur finden können. Inzwischen war der Vorrat an der Tinktur aufgebraucht und besonders Alfons ärgerte sich, dass eine erkleckliche Einnahmequelle wegfiel.

"Ach", seufzte Gertrude, "das Nähschränkchen werde ich immer in Ehren halten." Ihr Herrmann hatte es ihr einige Tage nach ihrer Hochzeit gezeigt, es stand noch in der Werkstatt. "Das habe ich für meine einzige und wahre Liebe gemacht", hatte er ihr erklärt. Voller Freude war sie ihm um den Hals gefallen. Sie war dankbar, dass er, der schweigsame und fleißige Mann, doch so tief für sie empfand. Und in dieser Nacht, da war sich Gertrude sicher, hatte sie Alfons empfangen, ihr leider einziges Kind. Und das Nähschränkchen stand seither als Zier in ihrer guten Stube.

Um an die Schere zu gelangen wollte sie die obere Schublade des Schränkchens aufziehen, aber die Schublade ließ sich nicht ganz öffnen. Ein feines Stück Tuch mit durchbrochenem Rand, das Gertrude für die Aussteuer ihrer Enkelin gekauft hatte, schien irgendwo fest zu hängen. Vorsichtig zog sie an dem Stoff, hatte aber Furcht ihn zu zerreißen. Also tastete sie vorsichtig, woran er denn hängen geblieben war. Irgendetwas war dort im Holz über der Schublade. "Au!" Sie hatte sich am Finger verletzt, etwas Blut trat hervor. Schnell griff sie nach ihrem Taschentuch und wickelte den Finger ein, damit keine Blutflecken an das wertvolle Tuch gelangen konnten. Ungehalten tastete sie wieder nach dem spitzen Störenfried. Vorsichtig mit der Fingerspitze fühlte sie schließlich eine kleine Erhebung, an deren Kante sie entlang fuhr. Aber dort hing der Stoff nicht fest. Es schien sich um ein Holzplättchen zu handeln. Sie tastete weiter und merkte, dass es in der Mitte mit einem kleinen Nagel fixiert wurde. Gertrudes Herz stolperte, ob das vielleicht die lange gesuchte Geheimformel sein konnte. Nachdem sie den Stoff vom Nagel gelöst und die beiden Schubladen des Schränkchens herausgezogen hatte, versuchte sie vorsichtig mit den Fingernägeln den Nagel zu fassen zu kriegen und herauszuziehen. Aber er saß zu fest. Sie nahm die Schere zu Hilfe und versuchte damit unter das Holzplättchen zu fahren, um es von der Decke zu lösen. Aber auch das gelang ihr nicht. Der kleine Nagel hielt fest. Also eilte sie, so schnell sie ihre alten Füße trugen, die Stiege hinab in die Werkstatt, um eine Kneifzange zu holen. Alfons rief ihr noch nach: "Mutter, was ist denn?" Aber Gertrude wehrte ihn nur mit einer ungeduldigen Handbewegung ab und entschwand. Wieder am Nähschränkchen angekommen, rang sie nach Atem und musste sich erst einmal setzen. Doch kurze Zeit später kniete sie schon voller Erwartung vor dem Schränkchen und zog unter einigen Beschwerlichkeiten den kleinen Nagel aus dem Holz. Mit einem leisen "Klackklack" prallte das Holzplättchen nun ins Rutschen geraten gegen die Rückwand. Immer noch voller Ungeduld und überzeugt davon, endlich das Geheimnis der Banzschen Möbeltinktur zu lüften, griff sie nach dem dünnen Holzplättchen, dass sich ihren steifen Fingern immer wieder entziehen wollte. Schließlich bekam sie es zu fassen und zog es heraus.

Mit leicht zitternden Händen hielt sie es ins Licht, um die mit schwarzer Tinte geschriebenen Lettern zu entziffern. Aber ach, anstatt nun das geheime Rezept von Herrmanns Möbeltinktur zu enthüllen, erfuhr sie ein anderes von Herrmanns Geheimnissen. Eines, das besser unentdeckt geblieben wäre. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als das Holzplättchen ihrer Hand entglitt und zu Boden fiel. In dicken schwarzen Buchstaben stand dort: Dir Margret, in geheimer und ewiger niemals endender Liebe, Dein Herrmann. Ein merkwürdiger Laut entrang sich Gertrudes Brust, verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht, als könne sie aufhalten, was aus ihr heraus brach. Eine ganze Stunde saß sie so da, wie versteinert, rührte sich nicht, nur ein steter Strom von Tränen floss unablässig ihre Wangen hinab.

Dann plötzlich straffte Gertrude ihre Schultern, energisch wischte sie mit ihrem von Blut besprenkelten Taschentuch über ihre Augen. Sie nahm das Holzplättchen und den kleinen Nagel und befestigte sie wieder im inneren des Nähschränkchens, als sei niemals etwas geschehen. Den Inhalt der Schubladen kippte sie achtlos auf den Boden und schob diese zurück an ihren Platz. Entschlossen stand sie auf, nahm das Nähschränkchen fest mit beiden Händen und trug es die Stiege hinab bis auf die Straße. Dort ließ sie es einfach in der Gosse stehen. Genau in dem Moment als Gertrude wieder das Haus betrat, klatschten die großen, breiten Tropfen eines plötzlichen Sommerregens aus heiterem Himmel auf das Kopfsteinpflaster und tanzten und trommelten auf das Nähschränkchen. Als der Regen vorüber war, war auch das Schränkchen verschwunden, als habe es der Regen hinweggespült. Erst viele, viele Jahre später gelangte es über Umwege in meinen Besitz. Und so wissen nur Gertrude, Herrmann und ich, dass das kleine Nähschränkchen für eine Frau Namens Margret bestimmt war. Hermanns unerfüllte, geheime und ewige Liebe.

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Für diese Kurzgeschichte erhielt die Autorin den zweiten Preis beim 5. Literaturwettbewerb der Kasseler Literaturbörse. Übertragen wurde die Lesung vom Offenen Kanal Kassel. Kurzgeschichten

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