Montag, 26. Januar 2009
Das Nähschränkchen
Am Morgen des 26. August 1914 stand Gertrude Banz sehr früh auf. Sie hatte ihrer Schwiegertochter versprochen die Bordüren an die neuen Kleider ihrer beiden Enkelinnen zu nähen. Dazu wollte sie das Morgenlicht nutzen, denn ihre Augen waren nicht mehr so gut wie einst. Gertrude war seit einem Jahr Witwe. Ihr Herrmann war fast genau auf den Tag vor einem Jahr von einem Pferdefuhrwerk überrollt worden.

Ein Glück immerhin, dass Alfons, ihr Sohn, die Tischlerwerkstatt des Vaters weiterführen konnte. Aber nun gab es Krieg. Gertrude hoffte, dass der so schnell vorbeiging wie anno 70/71. Damals war sie noch jung gewesen, gerade verheiratet. Sie lächelte fein vor sich hin, wenn sie an ihren Herrmann dachte. Er war so ein arbeitsamer Mann gewesen, arbeitsam und schweigsam, aber ein guter Mann. Zu der Zeit als sie geheiratet hatten, hatte er vor allem wunderschöne, zierliche Möbel gebaut. Auch das Nähschränkchen, aus dessen Schublade sie gerade die Bordüren und Nadel und Faden hervorsuchte, stammte aus dieser Zeit.

"Ach, nein!" überlegte sie, das kunstvolle Nähschränkchen war Herrmanns Meisterstück gewesen und noch vor ihrer Hochzeit entstanden. Und jetzt 45 Jahre später tat es immer noch seinen Dienst. Es waren kaum Alters- oder Gebrauchsspuren zu sehen. Das war der Achtsamkeit zu verdanken, mit der es von allen behandelt wurde, und der "Wundersamen Banzschen Möbeltinktur für alle dunklen Hölzer 'frischt auf und pflegt'" nach einem Geheimrezept von Herrmann. Leider war dieses Rezept mit Herrmann zu Grabe getragen worden. Vor seinem Tode war er nicht mehr zu Bewusstsein gekommen. Später dann hatten Gertrude und ihr Sohn Alfons alles durchsucht, das Haus, die Werkstatt, aber hatten kein Rezept für die Tinktur finden können. Inzwischen war der Vorrat an der Tinktur aufgebraucht und besonders Alfons ärgerte sich, dass eine erkleckliche Einnahmequelle wegfiel.

"Ach", seufzte Gertrude, "das Nähschränkchen werde ich immer in Ehren halten." Ihr Herrmann hatte es ihr einige Tage nach ihrer Hochzeit gezeigt, es stand noch in der Werkstatt. "Das habe ich für meine einzige und wahre Liebe gemacht", hatte er ihr erklärt. Voller Freude war sie ihm um den Hals gefallen. Sie war dankbar, dass er, der schweigsame und fleißige Mann, doch so tief für sie empfand. Und in dieser Nacht, da war sich Gertrude sicher, hatte sie Alfons empfangen, ihr leider einziges Kind. Und das Nähschränkchen stand seither als Zier in ihrer guten Stube.

Um an die Schere zu gelangen wollte sie die obere Schublade des Schränkchens aufziehen, aber die Schublade ließ sich nicht ganz öffnen. Ein feines Stück Tuch mit durchbrochenem Rand, das Gertrude für die Aussteuer ihrer Enkelin gekauft hatte, schien irgendwo fest zu hängen. Vorsichtig zog sie an dem Stoff, hatte aber Furcht ihn zu zerreißen. Also tastete sie vorsichtig, woran er denn hängen geblieben war. Irgendetwas war dort im Holz über der Schublade. "Au!" Sie hatte sich am Finger verletzt, etwas Blut trat hervor. Schnell griff sie nach ihrem Taschentuch und wickelte den Finger ein, damit keine Blutflecken an das wertvolle Tuch gelangen konnten. Ungehalten tastete sie wieder nach dem spitzen Störenfried. Vorsichtig mit der Fingerspitze fühlte sie schließlich eine kleine Erhebung, an deren Kante sie entlang fuhr. Aber dort hing der Stoff nicht fest. Es schien sich um ein Holzplättchen zu handeln. Sie tastete weiter und merkte, dass es in der Mitte mit einem kleinen Nagel fixiert wurde. Gertrudes Herz stolperte, ob das vielleicht die lange gesuchte Geheimformel sein konnte. Nachdem sie den Stoff vom Nagel gelöst und die beiden Schubladen des Schränkchens herausgezogen hatte, versuchte sie vorsichtig mit den Fingernägeln den Nagel zu fassen zu kriegen und herauszuziehen. Aber er saß zu fest. Sie nahm die Schere zu Hilfe und versuchte damit unter das Holzplättchen zu fahren, um es von der Decke zu lösen. Aber auch das gelang ihr nicht. Der kleine Nagel hielt fest. Also eilte sie, so schnell sie ihre alten Füße trugen, die Stiege hinab in die Werkstatt, um eine Kneifzange zu holen. Alfons rief ihr noch nach: "Mutter, was ist denn?" Aber Gertrude wehrte ihn nur mit einer ungeduldigen Handbewegung ab und entschwand. Wieder am Nähschränkchen angekommen, rang sie nach Atem und musste sich erst einmal setzen. Doch kurze Zeit später kniete sie schon voller Erwartung vor dem Schränkchen und zog unter einigen Beschwerlichkeiten den kleinen Nagel aus dem Holz. Mit einem leisen "Klackklack" prallte das Holzplättchen nun ins Rutschen geraten gegen die Rückwand. Immer noch voller Ungeduld und überzeugt davon, endlich das Geheimnis der Banzschen Möbeltinktur zu lüften, griff sie nach dem dünnen Holzplättchen, dass sich ihren steifen Fingern immer wieder entziehen wollte. Schließlich bekam sie es zu fassen und zog es heraus.

Mit leicht zitternden Händen hielt sie es ins Licht, um die mit schwarzer Tinte geschriebenen Lettern zu entziffern. Aber ach, anstatt nun das geheime Rezept von Herrmanns Möbeltinktur zu enthüllen, erfuhr sie ein anderes von Herrmanns Geheimnissen. Eines, das besser unentdeckt geblieben wäre. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als das Holzplättchen ihrer Hand entglitt und zu Boden fiel. In dicken schwarzen Buchstaben stand dort: Dir Margret, in geheimer und ewiger niemals endender Liebe, Dein Herrmann. Ein merkwürdiger Laut entrang sich Gertrudes Brust, verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht, als könne sie aufhalten, was aus ihr heraus brach. Eine ganze Stunde saß sie so da, wie versteinert, rührte sich nicht, nur ein steter Strom von Tränen floss unablässig ihre Wangen hinab.

Dann plötzlich straffte Gertrude ihre Schultern, energisch wischte sie mit ihrem von Blut besprenkelten Taschentuch über ihre Augen. Sie nahm das Holzplättchen und den kleinen Nagel und befestigte sie wieder im inneren des Nähschränkchens, als sei niemals etwas geschehen. Den Inhalt der Schubladen kippte sie achtlos auf den Boden und schob diese zurück an ihren Platz. Entschlossen stand sie auf, nahm das Nähschränkchen fest mit beiden Händen und trug es die Stiege hinab bis auf die Straße. Dort ließ sie es einfach in der Gosse stehen. Genau in dem Moment als Gertrude wieder das Haus betrat, klatschten die großen, breiten Tropfen eines plötzlichen Sommerregens aus heiterem Himmel auf das Kopfsteinpflaster und tanzten und trommelten auf das Nähschränkchen. Als der Regen vorüber war, war auch das Schränkchen verschwunden, als habe es der Regen hinweggespült. Erst viele, viele Jahre später gelangte es über Umwege in meinen Besitz. Und so wissen nur Gertrude, Herrmann und ich, dass das kleine Nähschränkchen für eine Frau Namens Margret bestimmt war. Hermanns unerfüllte, geheime und ewige Liebe.

_______________________

Für diese Kurzgeschichte erhielt die Autorin den zweiten Preis beim 5. Literaturwettbewerb der Kasseler Literaturbörse. Übertragen wurde die Lesung vom Offenen Kanal Kassel. Kurzgeschichten

... comment