Mittwoch, 10. September 2008
10. September - Still im Wald
Die Vögel singen nicht mehr. Im Wald ist es still. Die Mücken fliegen lautlos und stechen noch lautloser.
Ab und zu raschelt ein Tier im Unterholz. Ganz selten einmal bricht ein Reh durch. Aber kein Singen. Kein einziger Ton.

Die Vögel sind es leid sich zu produzieren und aufzuspielen, sie jiepen und fiepen nicht mehr, kein jubeln, kein tirillieren, kein schuhuhen und auch kein pfeifen weder eintönig noch melodiös. Einfach Stille.

Bis auf meinen Atem, die Schritte auf dunkler Erde, manchmal raschelndes Laub und dann und wann von ganz weit vorn doch ein merkwürdiges Geräusch, fast ein Pfeifen. Aber es ist nur ein Jogger, der sich für seine Gesundheit abmüht. Kaum erspäht er mich, nimmt er Haltung an und hört auf zu keuchen und zu japsen. Nur die schweren Tritte verraten, dass er sich nicht so häufig diese Tortur aussetzt.

Gamander Ehrenpreis ist längst verblüht, dick und lila prangen verräterisch aussehende Früchte am Gesträuch. Da beginne ich ganz langsam und zögerlich selbst zu pfeifen. Ein bisschen die Tonleiter rauf und runter, ein paar Synkopen, dann Beethoven. Ich werd es euch schon zeigen. Wenn ich Urwaldgeräusche will, dann mache ich mir eben selber welche. Herbst? Keine Lust mehr? Pah. Ich habe das ganze Jahr Saison. September

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9. September - Kehraus
Sybille öffnete ihren Kleiderschrank und erschauerte vor den Bergen von schlecht zusammengelegten T-Shirts, Pullovern und Hosen. Wenigstens die Blusen und Jacken hingen einigermaßen in Reih und Glied.

Unterwäsche, Socken, Reizwäsche, halterlose Strümpfe, Strumpfhosen, Stocks lagen kreuz und quer in drei Schubladen. Sie hasste den ganzen Kram. Das war ihr plötzlich klar. In Wahrheit hatte dort nichts die richtige Farbe.

Was um Himmels willen wollte sie mit einem knallroten Abendkleid mit Pailetten? Und was sollten diese schwarzen, grauen, granitfarbenen Hosenanzüge aus Polyester, mal mit mal ohne Nadelstreifen? Weiße Blusen mit Schillerkragen, mit Rundkragen, mit Spitzkragen, mit Rüschen.

Sie fing an auszusortieren. Aber dann besann sie sich. Sorgsam abwägend suchte sie ihre Lieblingskleidungsstücke aus dem Schrank heraus und legte sie aufs Bett. Als sie sicher war alles gefunden zu haben, stopfte sie alles andere, was noch im Schrank lag oder hing, in zwei große Müllsäcke, knotete sie zu und fuhr zum Altkleidercontainer.

Nur mit großer Mühe gelang es ihr die schweren Säcke in die Container zu hieven und durch den engen Einfallschlitz zu bugsieren. Als es ihr endlich gelang klatschte sie in die Hände und fuhr eilig nach Hause. Als nächstes war der Schuhschrank dran und dann der Geschirrschrank und dann der Bücherschrank. Oh, wie schön, endlich fort mit all dem Ballast. Sybille jubelte und fühlte sich unsagbar frei. September

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Montag, 8. September 2008
8. September - Mut
Was ist Mut? Normalerweise würde ich sagen, es gibt zwei Arten von Mut. Der Mut aus Dummheit, Unwissenheit, Blindheit geboren. Der Mut desjenigen, der einfach losrennt, ohne an die Folgen zu denken. Der Mut desjenigen, der sich unverwundbar und im Recht fühlt.
Dann gibt es den Mut des Ängstlichen, der die Folgen sieht, die Zweifel spürt und dennoch mutig die Angst überwindet und der Gefahr entgegentritt. Es gibt aber noch eine dritte Art von Mut, die Demut. Diese schwierigste Form des Mutes, die Königsdisziplin. Nich leicht zu erringen. Die Kunst dabei ist voller Stolz und Anmut sein Haupt zu senken und nicht daran zu zerbrechen. September

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7. September - Basel
Kennen Sie das Frankfurter Kreuz? Das Autobahnkreuz bei Frankfurt am Main? Großer Verkehrsknotenpunkt, dort treffen viele Autobahnen zusammen und trennen sich wieder. Führen einen jeden in die richtige Richtung, wenn er sie nimmt die richtige Richtung, die Abfahrt nicht verpasst und sich nicht irre machen lässt von den Zeichen und Weisungen. Und mahnend schwebt immer noch über mir die Beschreibung meines Vaters, wie ich am Frankfurter Kreuz mich zu verhalten habe, wenn ich meine Großmutter besuchen will. Nie, niemals dürfe ich die A3 Richtung Basel weiterfahren, das sei grundfalsch, führe mich in völlig andere Gefilde. Gefährlich wahrscheinlich, auf jeden Fall weitab vom Ziel. Meine Großmutter lebt schon lange nicht mehr, trotzdem war ich noch nie in Basel, habe niemals daran gedacht die A3 am Frankfurter Kreuz zu verfolgen. Vielleicht wird es endlich Zeit herauszufinden, was an der A3 Richtung Basel so gefährlich ist. Ob es dort nicht auch lohnende Ziele gibt, die nur auf mich warten. September

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6. September – Untergang
Wie es geschah, dass weiß keiner, aber dass es geschah, daran erinnern sich noch viele. Ein kleines Boot, ein Segelboot, geliehen von unerfahrenen Seglern, unsinkbar diese Dinger, das Boot wurde auch wiedergefunden nur etwas zerzaust aber ohne Besatzung.

Und das war es dann. Suchaktion ohne große Hoffnung. Schließlich wurden irgendwann die Leichen gefunden, aufgebläht und seltsam wächsern, stinkend natürlich. Nichts für einen offenen Sarg. Traurige Reden auf den Beerdigungen, so unerwartet, so jung, so vielversprechend, so talentiert. Niemals, niemals werden wir euch vergessen.

So schworen wir damals. Und doch, irgendwann vergessen auch wir, vielleicht erst wenn wir tot sind. Was interessiert unsere Kinder, unsere Enkel das Leben und der unerwartete Tod von irgendwem, den sie nie kannten. An die ich mich kaum noch erinnern kann. Nur aus Hartnäckigkeit und treu meinem Schwur halte ich fest und fest. Wie lange noch? September

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5. September - Ein Lied
Wenn ich ein Lied schreiben müsste, dann wäre es dieses:

Please tell me, Big Mind,
who i am?
Please tell me, Big Mind,
please tell me, Big Mind,
please tell me, Big Mind,
who i am?

And Big Mind spoke to me and she said:

Look in a mirror
Look around you
You are these horses and the wheat too
You are the grass and the wind and the trees and the sky above

Look in a mirror
Look around you
You are these horses and the wheat too
You are all of them and one of them, always good enough September

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4. September - Rechthaben
Manchmal, wenn ich mit mir selbst ringe, mich gerade im Schwitzkasten umklammert halte und mir genüsslich die Nase umdrehen will, da frage ich mich plötzlich: „Gehöre ich eigentlich noch zu den Guten? Kämpfe ich hier eigentlich auf der richtigen Seite?“

Und dieser Gedanke überrascht mich dann derartig, dass ich mich loslassen muss. Dann sitze ich schwitzend und außer Atem neben mir, schaue zu wie ich mir die schmerzende Nase reibe. Das tut nämlich verdammt weh, die Nase umzudrehen. Und dann blicke ich mich so von der Seite an und überlege, ob ich denn wirklich noch Sir Galahad bin, Ritter der Armen und Entrechteten oder ob ich in zwischen schon zu China mutiert bin, das Tibet die Sehnsucht nach Freiheit und Autonomie im Klammergriff auszutreiben sucht.

Und dann frage ich mich neben mir: „Kämpfen wir eigentlich für eine gute Sache?“ Und die andere sagt wie aus der Pistole geschossen: „Na klar, ich schon!“

„Und warum kämpfen wir dann nicht zusammen sondern gegeneinander?“ Da schaut mich die andere ganz entgeistert an und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

„Ja“, sage ich dann, „ich war nur einen Moment unsicher. Aber jetzt weiß ich wieder, dass ich im Recht bin.“

„Nein, ich!“, brüllt da die andere und schon haben wir uns wieder in der Wolle. Das Blöde daran ist nur, dass ich immer noch nicht weiß, welche von uns beiden nun wirklich Recht hat.Weißt Du es? September

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3. September - Im Kreis
Kennst du das auch? In so einem merkwürdigen Gedankenkreislauf gefangen zu sein? Du weißt nicht, was ich meine. Na dann werde ich es dir erklären.

Stell dir vor, du würdest gerne Dompteur werden, hast aber fürchterliche Angst vor allen Arten großer Raubkatzen. Weil das nun einmal so ist, arbeitest du bei einer Schlachterei im Büro. So hast du zwar irgendwie auch etwas mit Tieren zu tun, aber doch nicht so richtig. Also bist du unglücklich und träumst vom Dasein als Raubtierdompteur.

In deiner Vorstellung stehst du in der Manege, lässt die Peitsche knallen, Simba und Daphne gehorchen dir aufs Wort nur Nelson ist immer ein bisschen eigensinnig. Aber gerade deshalb klappt bei ihm der Trick mit dem Kopf im Löwenmaul am besten. Applaus brandet auf, mit ein paar weiteren Bewegungen scheuchst du die Tiere aus der Manege. Verbeugst dich und bist glücklich. Ach, Schade, nur ein Traum. Dann überlegst du. Ich bin so unglücklich in meinem wirklichen Beruf, ich möchte viel lieber Dompteur werden, aber ich habe doch solche Angst vor Raubkatzen. Sogar um Nachbars Kater Paulchen machst du einen großen Bogen, dabei ist der wirklich winzig, geradezu ein Zwergkater und dann auch noch zutraulich.

Dann denkst du, ja, wenn ich nicht so viel Angst hätte, dann könnte ich das ja machen. Du erkundigst dich, dass es Verhaltenstherapie gibt, um seine Ängste zu verlieren. Das geht sogar relativ schnell. Aber dann müsstest du ja erst einmal richtig lernen, wie man Dompteur ist. Du müsstest in die Lehre gehen. Oh je. Du bist doch sicher schon viel zu alt dazu. Und außerdem verdienst du kein Geld, wenn du jetzt wieder ganz von vorn anfängst, was würde deine Frau dazu sagen oder dein Mann, deine Kinder, deine Schwippschwager-Großtante?

Nun, sie würden dich sicherlich für verrückt halten. Dann bleibst du doch besser bei deinem Job im Büro der großen Schlachterei. Aber da verdienst du ja auch nicht wirklich gut. Als Dompteur könntest du bestimmt richtig viel Geld verdienen, wenn du Glück hast und es richtig anstellst. Ach ja, das wäre schon toll. Außerdem wärst du ja auch viel lieber Dompteur. Nur deine Angst vor den Raubkatzen, die ist schon ein Hindernis. Ach ja, nun ja, du könntest natürlich eine Therapie machen und dann…

Wenn ich mich jetzt neben dich stelle, neben dich mit dem Gedankenkreislauf, da weiß ich ehrlich gesagt nur einen Rat: Steig aus. Streichel erst mal die Katze. Und dann sieh weiter. Vielleicht lässt sie dich ja den Kopf ins Maul stecken, wenn du schön artig bittest. September

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2. September - Eine ganze Welt
Eine ganze Welt fließt aus meiner Feder. Strömt verborgenen Pfaden folgend unaufhaltsam heraus. Manchmal mächtig, alles hinfortspülend, manchmal bedächtig und stetig, sich langsam den Weg bahnend.

Und jedesmal, wenn ich die Feder ansetze, verändert sich diese Welt. Wenn ich es zulasse. Wenn ich es wage. Dann fließt eine zweite, eine dritte Welt heraus, formt sich, zeigt mir Möglichkeiten der Wandlung. Unendlich viele. Was in einem Menschenleben schon unendlich heißt. Trotzdem genug um mich in Staunen zu versetzen über all das was ich gar nicht fühlen konnte, niemals wissen wollte, was im Verborgenen dort liegt, lange schon wartet. Ungeduldig vielleicht, verdrossen wohlmöglich. Befreit sobald ich die Feder, den Stift, die Hände auf die Tastatur lege und schreibe.

Manchmal sehe ich sie dort im Dunkel liegen und sitzen und auf und ab traben oder auch schläfrig ruhen und sich nur ungern ans Licht zerren lassend. Und dann kommt Furcht über mich oder Sehnsucht oder Freude. Und ich lerne nach und nach der Bewegung meiner schreibenden Hand folgend Vertrauen in den Fluss des Wandels zu haben. Ganz einfach, auf und ab auf weißem Papier entsteht eine Welt oder zwei oder drei oder unendlich viele. Auch wenn ich sie nicht sehen will, sind sie doch da, immer als Möglichkeit, als Schwingung. Das also ist Sicherheit: die Hand auf dem Papier, die das alles sichtbar macht, dem ich ohnehin niemals entfliehen kann. Und die Irrtümer fliegen davon wie die Spreu, die himmelwärts davonfliegt, vom Weizen sich trennt. Dann liegt es da, das kleine Korn, bereit zu wachsen, bereit Nahrung zu sein. Bereit. Lass es nicht sinnlos vertrocknen. September

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1. September - Marie
„Bist du wahnsinnig?“ Mit einer schnellen Bewegung riss Konrad seiner Tochter das Messer aus der Hand, mit dem sie gerade in der Steckdose herumpulen wollte.

Die Kindersicherung hatte sie bereits entfernt. Schweißtropfen glänzten auf Konrads Stirn. Irgendwie hatte er sich das Kinderhüten einfacher vorgestellt. In Ruhe Zeitung lesen, vielleicht eine schöne Tasse Kaffee dazu trinken und ab und zu einen Blick auf die Kleine werfen. Sonst, wenn er abends nach Hause kam, war sie doch immer schön still und machte höchstens noch ein wenig Theater beim ins Bett gehen. Susanne hatte sie ganz gut im Griff. Außerdem las sie ihr noch vor, damit Marie schnell einschlief.

Konrad wunderte sich plötzlich, woher Susanne die Energie nahm. Sie ging vormittags arbeiten, kümmerte sich fast allein um den Haushalt und um Marie. Donnerstags machte sie Aquagymnastik und Samstagabend gingen Konrad und Susanne oft tanzen und ließen Marie bei der Oma. Er war von seiner Arbeit normalerweise so erledigt, dass er es an Wochentagen abends höchstens noch vor den Fernseher schaffte. Manchmal baute er dann noch an seinen Flugzeugmodellen. Aber meistens hatte er gar keine Lust dazu und schlief stattdessen auf dem Sofa ein bis Susanne ihn wachmachte und ins Bett schickte.

Und nun hatte er Urlaub und musste das allererste Mal allein auf Marie aufpassen. Zumindest seit sie ins Krabbelalter gekommen war. Vielleicht hatte Marie einfach die unbändige Kraft von Susanne geerbt, denn anders konnte er sich nicht erklären wie sie derartig schnell durch die Wohnung robben, sich überall hochziehen und auch noch die meisten Schranktüren aufreißen konnte. Gerade zog sie am Tischläufer und drohte die Blumenvase in den Abgrund zu zerren. Mühsam entwand er Marie die Stoffbahnen aus den kleinen Fingern und nahm sie auf den Arm. „Nach mir kommst du jedenfalls nicht“, murmelte er als ihn Marie in die Nase zwickte und dabei lauthals lachte. September

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