Mittwoch, 17. September 2008
17. September - Später Besuch
365und1tag, 20:20h
Eines Nachts kam ein knorriger, alter Mann an meine Tür und klingelte. Normalerweise mache ich um die Uhrzeit die Haustür unten gar nicht mehr auf. Aber ich erwartete eine Freundin, die sich bereits per Telefon angekündigt hatte. Also drückte ich ohne lange nachzufragen den Summer, öffnete meine Wohnungstür einen Spalt und verschwand wieder in der Küche, um Tee zuzubereiten.
Als nach zwei Minuten immer noch keine Caro bei mir in der Küche stand, wunderte ich mich und ging wieder an die Tür. Sie stand immer noch einen Spalt offen, unverändert. Ich öffnete sie und lauschte ins Treppenhaus. Ein keuchender Atem war zu hören, schwere Schritte, ein hohler, klackernder Ton. Caro konnte das nicht sein, außer sie hatte über Nacht 100 Kilogramm zugenommen, sich außerdem noch beide Beine gebrochen und versuchte jetzt mit Krücken in den fünften Stock zu gelangen. Ich versuchte durch die Treppengeländer nach unten zu erspähen, wer sich da näherte. Ich sah aber nichts weiter als eine alte, sehr alte knorrige Hand, die sich in Zeitlupentempo am Handlauf nach oben schob. Sich festkrallte. Dann wieder löste und ein paar Zentimeter weiter oben zukrallte. Die Adern traten hervor, knotig waren die Finger und große Altersflecken prangten auf dem Handrücken.
„Hallo!“, rief ich zaghaft. Das Keuchen wurde lauter, dann ein knapper Ruf. Ich verstand aber nicht, was gerufen wurde. Eine große Furcht erfasste mich. Wer schellte um diese Uhrzeit bei mir? Keuchte langsam wie eine Schnecke die Treppen hinauf? Schnell glitt ich zurück in meine Wohnung und schloss die Wohnungstür hinter mir. Leise. Und lauschte. Legte mein Ohr an das glatte Holzimitat. Bestimmt hatte sich der Mann getäuscht. Im Dunkeln die falsche Klingel gedrückt. Vielleicht wollte er zu Familie Semmerau von unten. Ich unterdrückte ein Zittern. Ein lautes Klacken ertönte. Das Flurlicht hatte sich automatisch ausgeschaltet. Dann ein leises Klicken. Wieder an.
Ich schaute durch den Spion. Ich sah einen alten Mann mit einem dunklen Wurzelholzstock im zerschlissenen Lodenmantel, mit weißem Backenbart und einer Schiffermütze auf dem Kopf vor meiner Tür stehen. Langsam schob sich der Zeigefinger seiner Hand auf meine Klingel. Noch bevor er sie berührte, wusste ich, ich mache nicht auf. Nein, niemals. Als ich dies dachte zuckte das linke Auge des Mannes in meine Richtung. Sein Augapfel drehte sich und blickte mich voll an. Ertappt machte ich einen Schritt zurück in meine Wohnung. Die Türklingel schrillte in meinen Ohren. Ich versuchte unhörbar zu atmen. Wartete. Er klingelte wieder. Mich an der Wand entlang tastend trat ich den Rückzug in meine Küche an. Drrrring. Ich hasste diesen Ton. Nun ließ er den Finger auf der Klingel. Ich spürte das Knirschen des alten Fingernagels auf dem Knopf.
„Verdammt nochmal“, brüllte ich, „wer sind Sie, was wollen Sie? Mitten in der Nacht?“ Das Klingeln erstarb. Keine Antwort. Vorsichtig näherte ich mich wieder der Tür, spähte durch den Spion. Der Mann hielt einen Zettel hoch.
„Suche Arbeit!“, stand dort in großen Lettern.
„Nachts um Elf?“, rief ich erbost. „Machen Sie, dass Sie wegkommen.“ Dann wurde plötzlich etwas weich in mir.
„Warten Sie einen Moment“, sagte ich und lief in die Küche, um etwas zu essen und eine Flasche Bier in eine Tüte zu packen. Auch zwei Geldscheine legte ich dazu. Dann legte ich die Kette vor, öffnete die Tür einen Spalt und reichte die Tüte hinaus. „Tut mir leid, mehr kann ich nicht für sie tun.“
„Doch, bitte“, stieß der Mann mit rauher Stimme hervor, „würden sie bitte einen Moment meine Hand halten?“ Und schon griff er nach meiner Hand, die die Tüte festhielt, umschloß sie sanft mit seiner alten, knotigen Hand. Ich schaute den Mann an, sah seine Augen, voller Trauer, voller Abschied, voller Freude. Ganz sanft lag meine Hand in seiner.
„Wer…“, begann ich. Und dann begriff ich.
„Warte“, ich löste meine Hand aus seiner, öffnete die Tür und ließ den alten Mann ein.
„Komm!“ Ich führte ihn den Flur entlang Richtung Küche.
„Psst! Du schläfst gerade.“ Ich öffnete kurz die Tür zu Saschas Zimmer. Er war noch klein und niedlich, gerade fünf, er hatte seinen Plüschdelphin im Arm, die Beine freigestrampelt. Leise führte ich den Mann in die Küche, bat ihn sich zu setzen.
„Du träumst gerade“, sagte ich zu Sascha, den ich hinter den Augen des alten Mannes erkannt hatte. Er nickte.
„Ich bin gerade gestorben und du träumst von mir, damit du noch einmal mit mir Tee trinken, meine Hand halten und dich verabschieden kannst.“ Wieder nickte der alte Mann. Also tranken wir Tee und hielten uns an der Hand. Als der Alte Luft holte, schüttelte ich den Kopf.
„Sag’s mir nicht!“ Und so saßen wir bis Sascha aufhörte zu träumen. Ich erkannte es daran, dass die Augen des Alten plötzlich dunkelgrau wurden. Da entzog mir der Mann verlegen seine Hand, stand auf, nahm die Tüte mit den Kostbarkeiten und verließ schlurfend meine Wohnung. Zehn Minuten später klingelte Caro. Ich musste neues Teewasser aufsetzen. September
Als nach zwei Minuten immer noch keine Caro bei mir in der Küche stand, wunderte ich mich und ging wieder an die Tür. Sie stand immer noch einen Spalt offen, unverändert. Ich öffnete sie und lauschte ins Treppenhaus. Ein keuchender Atem war zu hören, schwere Schritte, ein hohler, klackernder Ton. Caro konnte das nicht sein, außer sie hatte über Nacht 100 Kilogramm zugenommen, sich außerdem noch beide Beine gebrochen und versuchte jetzt mit Krücken in den fünften Stock zu gelangen. Ich versuchte durch die Treppengeländer nach unten zu erspähen, wer sich da näherte. Ich sah aber nichts weiter als eine alte, sehr alte knorrige Hand, die sich in Zeitlupentempo am Handlauf nach oben schob. Sich festkrallte. Dann wieder löste und ein paar Zentimeter weiter oben zukrallte. Die Adern traten hervor, knotig waren die Finger und große Altersflecken prangten auf dem Handrücken.
„Hallo!“, rief ich zaghaft. Das Keuchen wurde lauter, dann ein knapper Ruf. Ich verstand aber nicht, was gerufen wurde. Eine große Furcht erfasste mich. Wer schellte um diese Uhrzeit bei mir? Keuchte langsam wie eine Schnecke die Treppen hinauf? Schnell glitt ich zurück in meine Wohnung und schloss die Wohnungstür hinter mir. Leise. Und lauschte. Legte mein Ohr an das glatte Holzimitat. Bestimmt hatte sich der Mann getäuscht. Im Dunkeln die falsche Klingel gedrückt. Vielleicht wollte er zu Familie Semmerau von unten. Ich unterdrückte ein Zittern. Ein lautes Klacken ertönte. Das Flurlicht hatte sich automatisch ausgeschaltet. Dann ein leises Klicken. Wieder an.
Ich schaute durch den Spion. Ich sah einen alten Mann mit einem dunklen Wurzelholzstock im zerschlissenen Lodenmantel, mit weißem Backenbart und einer Schiffermütze auf dem Kopf vor meiner Tür stehen. Langsam schob sich der Zeigefinger seiner Hand auf meine Klingel. Noch bevor er sie berührte, wusste ich, ich mache nicht auf. Nein, niemals. Als ich dies dachte zuckte das linke Auge des Mannes in meine Richtung. Sein Augapfel drehte sich und blickte mich voll an. Ertappt machte ich einen Schritt zurück in meine Wohnung. Die Türklingel schrillte in meinen Ohren. Ich versuchte unhörbar zu atmen. Wartete. Er klingelte wieder. Mich an der Wand entlang tastend trat ich den Rückzug in meine Küche an. Drrrring. Ich hasste diesen Ton. Nun ließ er den Finger auf der Klingel. Ich spürte das Knirschen des alten Fingernagels auf dem Knopf.
„Verdammt nochmal“, brüllte ich, „wer sind Sie, was wollen Sie? Mitten in der Nacht?“ Das Klingeln erstarb. Keine Antwort. Vorsichtig näherte ich mich wieder der Tür, spähte durch den Spion. Der Mann hielt einen Zettel hoch.
„Suche Arbeit!“, stand dort in großen Lettern.
„Nachts um Elf?“, rief ich erbost. „Machen Sie, dass Sie wegkommen.“ Dann wurde plötzlich etwas weich in mir.
„Warten Sie einen Moment“, sagte ich und lief in die Küche, um etwas zu essen und eine Flasche Bier in eine Tüte zu packen. Auch zwei Geldscheine legte ich dazu. Dann legte ich die Kette vor, öffnete die Tür einen Spalt und reichte die Tüte hinaus. „Tut mir leid, mehr kann ich nicht für sie tun.“
„Doch, bitte“, stieß der Mann mit rauher Stimme hervor, „würden sie bitte einen Moment meine Hand halten?“ Und schon griff er nach meiner Hand, die die Tüte festhielt, umschloß sie sanft mit seiner alten, knotigen Hand. Ich schaute den Mann an, sah seine Augen, voller Trauer, voller Abschied, voller Freude. Ganz sanft lag meine Hand in seiner.
„Wer…“, begann ich. Und dann begriff ich.
„Warte“, ich löste meine Hand aus seiner, öffnete die Tür und ließ den alten Mann ein.
„Komm!“ Ich führte ihn den Flur entlang Richtung Küche.
„Psst! Du schläfst gerade.“ Ich öffnete kurz die Tür zu Saschas Zimmer. Er war noch klein und niedlich, gerade fünf, er hatte seinen Plüschdelphin im Arm, die Beine freigestrampelt. Leise führte ich den Mann in die Küche, bat ihn sich zu setzen.
„Du träumst gerade“, sagte ich zu Sascha, den ich hinter den Augen des alten Mannes erkannt hatte. Er nickte.
„Ich bin gerade gestorben und du träumst von mir, damit du noch einmal mit mir Tee trinken, meine Hand halten und dich verabschieden kannst.“ Wieder nickte der alte Mann. Also tranken wir Tee und hielten uns an der Hand. Als der Alte Luft holte, schüttelte ich den Kopf.
„Sag’s mir nicht!“ Und so saßen wir bis Sascha aufhörte zu träumen. Ich erkannte es daran, dass die Augen des Alten plötzlich dunkelgrau wurden. Da entzog mir der Mann verlegen seine Hand, stand auf, nahm die Tüte mit den Kostbarkeiten und verließ schlurfend meine Wohnung. Zehn Minuten später klingelte Caro. Ich musste neues Teewasser aufsetzen. September
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