Freitag, 7. November 2008
7. November - Bruder
Mein großer Bruder ist überhaupt nicht wie der oftmals bemühte Klischee-Bruder, der gerufen wird, um die bösen Kerle zu verhauen.

Mein Bruder hat sich nämlich noch nie gerne geprügelt. Außerdem war er auch nicht der angeberische Mackertyp, eher der feinsinnige Künstler. Anfangs hatte er überhaupt wenig Lust sich mit der kleinen Schwester zu beschäftigen. Schließlich wollte die immer dabei sein. Ärgerte die Freunde, die er zu Besuch hatte, und war überhaupt eine ganz schöne Nervensäge.

Dabei war das für mich, die kleine Schwester, doch alles nur Spaß und Spiel und manchmal Lust am Provozieren. Trotzdem haben wir uns bemerkenswert wenig gestritten. Als ich langsam älter wurde, hat mich mein Bruder sogar manchmal mitgenommen zu Konzerten. Eine seiner Ex-Freundinnen wurde eine gute Freundin von mir.

Seit er vor langer Zeit ein paar Jahre vor mir aus unserem Elternhaus ausgezogen ist, sehen wir uns vielleicht ein oder zwei Mal pro Jahr, telefonieren ab und zu. Aber das gute Gefühl einen großen Bruder zu haben, das bleibt tief in meinem Herzen - auch wenn er sich niemals für mich prügeln wollte. November

... link (0 Kommentare)   ... comment


Freitag, 7. November 2008
6. November - Tipi
Tipi ist ein kleiner Hund. Er sitzt in Martins Bett und bewacht seinen Schlaf. Seine Knopfaugen bleiben in der Dunkelheit starr auf Martin gerichtet. Kein Blinzeln, kein Gähnen, kein mit den Augenrollen. Nur eiserne Konzentration.

Martin wälzt sich herum und stösst jammernde Laute aus. Tipi zuckt mit keiner Wimper. Stoisch sitzt er da und wacht. Er fragt sich auch nicht, was Martin wohl träumen mag. Tipi ist doch nur ein Stoffhund. Er denkt überhaupt nicht. Und wenn Martin schläft, da verlässt ihn jegliche Lebendigkeit. Seine Stimme, seine Beweglichkeit schlafen mit Martin die ganze Nacht.

Erst am nächsten Morgen, wenn Martin ihn mit heller Stimme begrüßt und in die Arme schließt, da wird Tipi wieder zum besten Freund des kleinen Jungen. November

... link (0 Kommentare)   ... comment


5. November - Nichts geht mehr
"Nichts geht mehr", sagt der Croupier und ich beobachte die gierigen, hoffnungsfrohen, angespannten oder verzweifelten Gesichter. Die verbliebenen Jetons werden in den Händen hin und her gedreht. Die Augen folgen der Kugel, die nun springt und tanzt, bevor sie zur Ruhe kommt, langsam auf eine der Ziffern rollt und liegenbleibt.

"Zero" sagt der Croupier. Dann schiebt er in unbeteiligter Geschäftigkeit die Jetons von hier nach da, kassiert ein, zahlt aus. Die Spieler um den Tisch scheinen sich allesamt auszukennen. Benötigen keine Erklärung, keine Anweisung. Nur einer entspannt sich, den übrigen ist die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

Doch nur ein Enttäuschter sieht wirklich blass aus, angeschlagen, fast vernichtet. Vielleicht fällt ihm gerade ein, welche Rechnungen er nun noch nicht bezahlen kann - außer denen, die er bereits nicht bezahlt hat. Die Sucht treibt ihn. Die Sucht nach vergeblicher Hoffnung. Die Sucht nach dem Traum vom schnellen Geld. Die Sucht nach dem Unglück. Die Sucht nach dem Drama.

Jeder kann langweilig arbeiten gehen und doch nicht genug auf Tasche haben. Aber in Größe untergehen, das kann nicht jeder. So blaß, so weiß um die Nase. Die Augen glimmen tiefschwarz. Er setzt seine letzten Jetons. Ich muss gehen. Ich kann mir den Ausgang nicht ansehen.

Selbst wenn er jetzt gewinnt, so zögert das seinen endgültigen Untergang nur kurz hinaus. Nein, treibt ihn noch weiter hinein. Vorbei. Eine sehr kostspielige Methode dem Leben mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Zufällen und Glücksmomenten aus dem Wege zu gehen. Roulette ist sicher: Das Gewinnen nur eine Illusion, der Verlust garantiert. November

... link (0 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 4. November 2008
4. November - Ein alter Hut
Kennt ihr das Gefühl, gerade irgendeine tolle Entdeckung gemacht zu haben und einen Augenblick später stellt ihr fest, dass genau diese Entdeckung bereits ein Dutzend anderer Menschen vor euch gemacht haben?

Warum also kommen so häufig alte Hüte dabei heraus, wenn wir auf Entdeckungsreise gehen? Das möchte ich doch gerne mal wissen. Habt ihr eine Idee dazu? Nun ja, ich schon. Es liegt an den ausgetretenen Trampelpfaden unserer Vorstellungen und Denkweisen. Nur leider auch diese Erkenntnis ein alter Hut.

Ich habe noch ein paar auf Lager, wartet mal ab. Ihr habt doch bestimmt schon einmal vom Dualismus gehört, den zwei Seiten einer Medaille. Das meint zwei Begriffe, die so untrennbar miteinander verschweißt sind wie Kopf und Adler, Arsch und Eimer oder eben Liebe und Hass, Mut und Angst usw.

Im Grunde sind diese so gegensätzlich erscheinenden Begriffe nichts weiter als die zwei Seiten eines Objekts. Das wusste bereits die ollen Griechen, die ganz ollen, die ja bekanntlich alle sehr einfallsreich und gebildet waren. Deshalb gab es auch schon vor mehr als 3000 Jahren (oder so) in der griechischen Sprache neben Einzahl und Mehrzahl die Zweizahl. Also: ich, beide (sich einander bedingende Seiten einer Medaille), wir. Ja, im Deutschen schwer auszudrücken und auch zu verstehen.

Wo ich jetzt viele Worte machen muss, da machte der Grieche eben nur eines und jeder verstand sofort, was er damit meinte. Nun ja, dieser ganze Kram mit dem Dualismus wurde mir bereits in der Schule beigebracht. In irgendwelchen Büchern über Bhuddismus las ich auch davon, dass dieser zu überwinden sei. Also der Dualismus begleitet mich mein ganzes bisherhiges Leben.

Und plötzlich komme ich darauf, dass es ja auch Gegensatzpaare gibt, die eben nicht dem normalen dualen Verständnis entsprechen. Zum Beispiel ist für mich Vertrauen das Gegenteil von Angst. Oder Gleichgültigkeit das Gegenteil von Liebe. Ach Mensch, das kommt mir so toll vor, endlich mal ein richtig neuer Gedanke aus eigener Erfahrung gewonnen, destilliert und abgefüllt. Aber wahrscheinlich doch wieder nur ein alter Hut. Macht aber nichts, für mich ist er nagelneu. November

... link (0 Kommentare)   ... comment


3. November - Wahrheit
Ist dir schon einmal aufgefallen, dass alles Unglück mit den Wörtern anfängt. Im Grunde mit den Abkürzungen dazwischen, den vorgefertigten Gedanken aus der Fabrik. Mit den Fast-Food-Denkweisen aus dem Kühlregal, kurz angewärmt und dann leicht und schnell inklusive aller Farb- und künstlichen Aromastoffe einverleibt.

So hörst du in jungen Jahren den Menschen zu, die du liebst und glaubst ihren Worten. Können sie fehlgehen? Nein! Denn sie sind ja deine Götter. Je älter du wirst umso häufiger werden deren Glaubenssysteme, Philosophien und Weisheiten widerlegt. Nicht alle, aber doch empfindlich viele. Widerlegt durch etwas, das sich Erfahrung nennt. Wem glaubst du nun? Den Weisheiten deiner Götter oder deinen selbst erlebten Gefühlen? Deinem Kopf oder deinem Bauch? Voller Unsicherheit wendest du dich ab udn suchst neue Götter. Götter mit ähnlichen Erfahrungen wie du. So steigst du aus dem tiefen Sumpf der Einsamkeit, in den dich der Zweifel geworfen hat. Der Streit zwischen Theorie und Praxis ist beigelegt.

Voller Freude lachst du denen zu, die dein Erleben teilen. Ist es deshalb Wahrheit? Nein, nur deine Wirklichkeit und die Erkenntnis, wie wohltuend es sich anfühlt verstanden zu sein. November

... link (0 Kommentare)   ... comment