Montag, 29. September 2008
29. September - Mir gäbet nix
Auf der Terrasse ist es kalt und nicht mehr viel los. Aber zwei Bekannte von Kerstin haben sich trotzdem dort ihr Abendessen servieren lassen. Kerstin und ich sagen "Hallo".

Während Kerstin sich nach einem Zeitungsartikel über das Schülertheater-Festival erkundigt, wann der wohl online stehe, als PDF vielleicht, schaue ich in eine andere Richtung. Das Gespräch interessiert mich nicht besonders. Vor den Ferien habe sie nicht damit zu rechnen, erhält sie Bescheid. Aber eine gute Idee, da wäre wohl noch keiner drauf gekommen. Das mache dann der Peter oder der Franz.

Die Gittertür rechts von uns wird von einem jungen Mann mit einem Tarnrucksack über der Schulter aufgehakt. Vorsichtig betritt er die Terrasse. Seine Kleidung sieht ziemlich abgerissen aus. Im Gesicht hat er ein paar Piercings, seine Haare stehen zottelig vom Kopf ab. Durch die Hintertür betritt er das Lokal. Ich verliere ihn aus den Augen. Die Unterhaltung dreht sich inzwischen um ein abgesagtes Stück. Der Hauptdarsteller ist wegen Krankheit ausgefallen. Aber Kerstin muss es bis zum Sommer auf die Bühne bringen oder neue Lizenzkosten an den Verlag bezahlen. Plötzlich steht der junge Mann mit dem Tarnrucksack neben mir.

„Habt Ihr vielleicht ein paar Cent für einen Obdachlosen?“, fragt er in die Runde. Stille senkt sich über uns. Eine feindselige Schwingung fühle ich. Eine schwäbische Schwingung, die mir sagt: "Mir gäbet nix."

Aber ich mag nicht dazugehören zu denen, die nichts geben. Warum soll ich dem Mann, dem Obdachlosen, der ein bisschen punkig, ein wenig ungewaschen aussieht und das Geld vielleicht versäuft oder für andere Drogen ausgibt oder am Ende mit Betteln mehr Geld verdient als ich mit meiner anständigen Arbeit, warum soll ich dem nicht ein paar Cent geben? Ein bisschen Kleingeld herzugeben tut mir doch nicht weh. Habe ich das Recht über seine Lebensführung zu richten? Nein, natürlich nicht. Also zücke ich mein Portemonnaie. Viel ist nicht mehr drin, aber im Kleingeldfach finde ich noch etwas.

Irgendwer muss doch dafür sorgen, dass nicht nur die Spatzen sondern auch die Menschen ernährt werden, auch ohne dass sie in den Scheunen sammeln. Oder habe ich das irgendwie falsch verstanden? Im Gegensatz zu Kerstin und ihren Bekannten gehöre ich keiner Kirche an und kenne mich nicht so gut mit den christlichen Gepflogenheiten aus. September

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Sonntag, 28. September 2008
28. September - Der Laden
Er dreht den Schlüssel herum, nachdem er ein letztes Mal das Licht gelöscht hat. Die Regale sind ausgeräumt. Stille senkt sich über den Raum. Die Verkaufstresen ragen wie Mahnmale aus verschlissenem Boden. Dessen Muster kann er seit Jahren nicht erkennen. Er weiß selbst nicht, haben seine Augen ihre Kraft verloren oder sind die Farben einfach nur verblasst, wie nach und nach seine Waren verblasst sind. Die karierten Herrenhüte, die Damenhüte aus Filz und Strick, die edlen Nerzkappen und Zobelmützen. Vor langer Zeit hat ihn der Laden verschluckt.

Da meinte er es noch gut mit ihm. Damals schimmerte die Zukunft rosig. Das schwere, dunkle Eichenfurnier der Einrichtung und die farblich abgestimmte Wandvertäfelung waren der letzte Schrei. Der gewebte Teppich prangte in Gold und Rubin auf tiefem Grund. Seine Frau stand an seiner Seite. Besitzerstolz erfüllte ihn. Endlich ging es aufwärts. Die Kriegsjahre, die Hungerjahre waren vorbei. Die Lehrjahre, die Gesellenjahre hatten sich ausgezahlt. Jetzt brauchten die Leute stolze Hüte, die ihnen sagten: „Du bist wieder wer“. Sie dürsteten nach Pelzkappen, die ihnen zuraunten: „Du wirst niemals wieder frieren“, und nach mondänen Strohhüten – groß wie Wagenräder, die ihnen einredeten: „Du bist tausendmal schöner als deine Nachbarin.“ Der Laden gab sie ihnen. Die Leute strömten hinein und kauften. Verkäuferinnen wurden eingestellt. Kleine, fleißige Frauen, adrett in helle Kittel gekleidet. Sie bedienten die Kunden, kletterten flink die Trittleitern hinauf und hinab, schmeichelten und lobten die Hüte auf die Köpfe der Menschen. Bald schon fuhr er mit seiner Frau auf Messen nach Italien und Skandinavien. Wie leicht und schön das Leben plötzlich erschien.

Hell und freundlich strahlte der Laden. Er ernährte ihn, hielt ihn auf Trab. Irgendwann kauften die Leute weniger Hüte. Aber sie kamen immer noch zu ihm. Schließlich war er doch der vom Hutladen, der beim Weinfest die Girlanden bezahlte, den alle kannten – meist aus der Schulzeit noch. Doch immer öfter sah er die alten Bekannten mit Kopfbedeckungen aus dem Kaufhaus. Da rückten seine Frau und er näher zusammen. Die fleißigen Verkäuferinnen verließen den Laden und kehrten nicht wieder. Seine Frau und er bedienten nun selbst. Wozu musste er noch auf Messen fahren? Die Vertreter kamen ins Haus und für alles andere gab es Kataloge. Unversehens gingen all seine Schulkameraden in Rente. Für ihn war das nichts. Wo hätten seine treuen Kunden einkaufen sollen. Sie brauchten ihn doch. Der Laden brauchte ihn.
Täglich blätterte der Lack ein bisschen mehr ab und doch schien die Zeit still zu stehen. Nach und nach, fast unmerklich, blieben auch die Stammkunden einer nach dem anderen fort. Sie waren alt, grau und gebückt. Niedergedrückt vom Leben so wie er gekrümmt war. Dabei hatten seine Frau und er oft davon gesprochen endlich aufzuhören, endlich in den verdienten Ruhestand zu treten. Aber der Laden, immer noch mächtig in seinem verblichenen Glanz, ließ ihn nicht los. Durch einen kleinen Spalt zwischen den Vorhängen erlaubte er ihm durch die ermatteten Schaufenster nach draußen zu sehen. Nur dieser kleine Schimmer erinnerte ihn noch an die Träume und Pläne, die er niemals mehr leben würde.

Eines Tages wachte seine Frau nicht mehr auf. Da kroch seine Trauer überallhin, zwischen die Vorhangfalten, in die Ritzen der Täfelung. Sie lauerte hinter den dunklen Tresen, versteckte sich unter den Hüten und Kappen. Der Laden blieb sein einziger Freund. Es dauerte Jahre. Jahre, die nur selten vom Läuten der Türglocke unterbrochen wurden. Jahre, die er damit verbrachte schwer auf seinen Stock gestützt die Waren zu sortieren. Die hohen Regalbretter erreichte er längst nicht mehr. Erst dann entschloss der Laden sich ihn auszuspucken. Er hatte keine Kraft mehr zur Gegenwehr. Nur seine Trauer lastete noch schwerer auf den Regalbrettern. Er hing Plakate ins Schaufenster: „50 % wegen Aufgabe“. Selbst das führte kaum Kunden in den Laden. Wenn sich jemand hineintraute, so blickte er in junge, unbekannte Gesichter, die sich ratlos umsahen. Die meisten flohen ohne etwas zu kaufen. Am Ende warf er alles fort. Wer sah den Hüten und Kappen schon an, dass er ihnen sein ganzes Leben geopfert hatte? Jetzt dreht er den Schlüssel herum nach einem letzten Blick in seine Welt, seine Heimat, seine Bestimmung. Ein letztes Mal überwindet er die drei Stufen zur Straße.

Geschrumpft, gebeugt und schwankend auf seinen Stock gestützt, sieht er sich im Schaufenster und erkennt sich nicht wieder. Er wendet sich ab und geht mit zittrigen Schritten davon. Nur seine Trauer springt leichtfüßig von den Regalen, quillt aus den Türritzen, perlt durchs Schlüsselloch und zieht ihm wie eine lange Schleppe nach. Der Laden liegt still und wartet. September

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Samstag, 27. September 2008
27. September - Lass die Arbeit ruhen
In dem Roman "Hallo lieber Gott, hier spricht Anna" war es glaube ich, dass die Hauptfigur, die kleine Anna sagte, die tollste Erfindung von Gott sei der Ruhetag.

Und irgendwie ist was dran - auch für die Agnostiker unter uns ist das Ausruhen eines der schönsten Errungenschaften der Menschheit. Ich frage mich nur, warum haben wir das überhaupt verlernt, vorher?

Vom Ahorn bis zur Zichorie, vom Affen bis zur Zecke wissen alle Lebewesen wie wichtig Ruhe und Entspannung ist. Aber wir dusseligen Menschen haben das irgendwann vergessen. Und so gibt es heute so merkwürdige Krankheiten wie Burn-out-Syndrom. Dabei müssen wir nur einmal in aller Ruhe draußen spazieren gehen, den Pflanzen und den Tieren zuschauen. Die lassen sich Zeit. Hetze ist nämlich ganz schlecht für die Lebensqualität. September

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26. September - Umstülpen
Wende die Welt einmal um, wie du Taschen umstülpst und sieh, was herausfällt.

Bunte Blätter und junge Katzen, ein paar Sonnenstrahlen und feuchtes Gras, Kieselsteine und Stroh, ein kleines Haus mit roten Dachziegeln, eine Herde Schafe und der Schäfer dazu mit seinen Hütehunden. Seine Pfeife qualmt noch, ein wenig durchgerüttelt und zerzaust stützt er sich schwer auf seinen langen gebogenen Stab um wieder auf die Beine zu kommen. Dann rieselt und bröckelt Muttererde hervor und formt sich fast wie von selbst zu großen Äckern mit Furchen, die Saat setzt sich in Reih und Glied selbst dort hinein. Ein paar Bäume rutschen nach, wenn du noch ein wenig schüttelst, ein Stoppelfeld von Mais und Büsche und Vögel, Krähen und Elstern. Wütend keckern sie über die üble Behandlung und ganz am Schluß kullerst du selbst heraus und irgendwie ist alles wie zuvor nur ganz anders.
Merkst du es schon? September

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