Freitag, 11. Juli 2008
11. Juli - Höhepunkt der Show
Leander der Clown weint. Eine große Träne fällt aus seinem linken Auge und kullert seine Wange hinab.
Nur sein Gesicht ist noch im Spotlight zu sehen. Sein Partner Toto, der die Violine ebenfalls weinen lässt, bleibt im Dunkel verborgen. Das ist der Höhepunkt ihrer Show. Nur perfekt, wenn nun die Kinder lauthals zu Schluchzen beginnen, die Frauen diskret ihre Taschentücher zücken und die Männer heftig schlucken und sich verstohlen die Augen wischen oder plötzlich heftig die Nase putzen müssen. Wenn der letzte Ton der Geige verklingt, verlischt das Licht. Tosender Applaus brandet auf. Die Manegenbeleuchtung geht an. Leander und Toto lachen wieder, verbeugen sich in alle Richtungen. Abgang. Juli

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Donnerstag, 10. Juli 2008
10. Juli - Eva
„Was treibst du dich hier herum?“ Franz war wütend als er das kleine Mädchen unter dem Tisch entdeckte, als er gerade die Stühle hochzustellen begann. Es war spät, Sperrstunde vorbei. Die letzten Gäste hatte er gerade hinausgescheucht, die Tische abgeräumt und abgewischt. Dabei war er so müde. Und morgen früh hieß es schon wieder um fünf Uhr auf dem Großmarkt einkaufen. Und dann das! Ein Kind unter dem Tisch. Sie wischte sich die Augen. Franz wusste nicht, ob das Mädchen geweint oder geschlafen hatte, aber ihre Augen waren verquollen. Ängstlich zuckte sie zurück, als er unter dem Tisch nach ihr greifen wollte.

„Na, ich tu dir schon nichts“, knurrte er. „Wie heißt du überhaupt?“ Das Mädchen schaute ihn misstrauisch an.

„Eva“, piepste sie schließlich.

„Ich heiße Franz. Und jetzt komm schon raus! Ein alter Mann wie ich sollte sich nicht so lange bücken müssen.“

Vorsichtig schob sich Eva seitlich unter dem Tisch hervor und stand auf. Sie strich ihre Bluse glatt.

„Schon besser“, sagte Franz. „Kannst mir mal helfen die Stühle hochstellen!“ Das ließ sich Eva nicht zweimal sagen. Eifrig half sie dabei und kaum drei Minuten später war schon alles erledigt.

„So“, sagte Franz und packte seine Sachen zusammen „dann fahr ich dich noch eben nach Hause.“

Erschrocken schaute Eva ihn an, dann ein schneller Blick zur Tür.

„Nein!“

„Aber was zur Hölle…“, begann Franz und verstummte.

So groß und ängstlich konnten Kinderaugen aussehen. Eva zog sich in sich zusammen als wäre sie eine Schnecke, der das Haus abhanden gekommen war. Franz schüttelte den Kopf. Wer tat Kindern sowas an?

„Hör mal“, sagte er, Du kannst auch hier übernachten. Hinten gibt’s ein Sofa.“

Er führte sie in den kleinen Flur hinter der Küche. Dort stand sein altes, abgewetztes Sofa, wo er ab und zu ein Mittagsschläfchen machte. Es lohnte ja nicht um drei Uhr nachmittags für die paar Stunden bis zum Abendbetrieb in seine Wohnung zu fahren. Er kramte eine Decke aus dem Dielenschrank. Eva beobachtete ihn misstrauisch.

„Magst was trinken oder essen?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Er stellte ihr trotzdem eine Flasche Apfelsaft hin und machte schnell ein belegtes Brot für das Mädchen. Sie beobachtete ihn genau, bei jedem Handgriff. Als er ihr den Teller hinstellte, setzte sie sich vorsichtig auf die Ecke des Sofas.

„Ich schließe ab. Morgen früh bin ich aber wieder hier und lass Dich raus. Geht leider nicht anders“, fügte er bedauernd hinzu.

Am nächsten Morgen fuhr Franz wie jeden Tag zum Großmarkt. Gegen Sieben kam er in seiner Gaststätte an und schloß die Hintertür auf. Eva war verschwunden. Als er nachschaute, stand das Toilettenfenster offen. Die Decke hatte sie ordentlich zusammengefaltet. Dann schaute er nach. Die 20 Euro, die er extra im großen Portemonnaie hatte liegen lassen, hatte sie nicht mitgenommen. Auch sonst fehlte nichts. „Armes Kind“, dachte er. „Hoffentlich schaffst Du’s!“ Dann räumte er die Waren in den Kühlraum. Juli

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Mittwoch, 9. Juli 2008
9. Juli - Cecilias Schuh
Cecilia blieb als Letzte übrig, wie immer. Keine ihrer Schulkameradinnen wollte sie in ihrer Völkerballmannschaft haben. Dafür war Cecilia einfach zu ungeschickt. Nie schaffte sie es den Ball zu fangen, wenn sie doch mal eine Mitspielerin anspielte und außerdem war sie so langsam, dass sie praktisch sofort getroffen wurde und das war es dann. Sie schaffte es nie zurück ins Spiel. Und auch heute war es wieder so. Die anderen spielten, sie strengten sich an, sie lachten und hatten Spaß. Und Cecilia saß in der Hölle fest. Auch als andere Spielerinnen dazukamen, beachteten die Cecilia nicht. Schließlich war sie einfach zu merkwürdig. Später dann im Mathematikunterricht saß Cecilia still in der dritten Reihe. Niemals meldete sie sich. Sie zitterte davor, dass der Lehrer sie aufrufen könnte. Aber meistens hatte sie Glück. Der Lehrer nahm dann nur die dran, die sich meldeten. Und die glänzten und wussten die Antworten. Alle anderen waren eben einfach schlauer als Cecilia. So war das den ganzen Tag.

Nur im Kunstunterricht da geschah plötzlich etwas Unerwartetes. Die Lehrerin befahl den Mädchen ihren rechten Schuh auszuziehen und vor sich auf den Tisch zu stellen. Den Schuh sollten die Mädchen zeichnen. Eifrig packten sie Papier und Bleistifte aus und strichelten los. Cecilia beugte sich besonders tief über ihr Blatt. Nur kurze Blicke warf sie auf den Schuh vor sich. Mit sicheren Bewegungen ihrer Hand warf sie die Konturen des Schuhs aufs Papier und arbeitete die dunkle Lederoberfläche, das silbrige Glänzen der Schnalle, die dunklen Falten im Leder, den leicht schiefen Absatz, die abgewetzte Stelle an der Ferse mit Licht und Schatten heraus. So eifrig war sie bei der Sache, dass Cecilia sogar das Klingeln überhörte. Erst als sie die anderen Mädchen die Stühle an die Plätze rücken sah. Und eine nach der anderen mit ihrer Schultasche über der Schulter der Lehrerin ihr Werk abgab, da merkte sie, dass die Doppelstunde zu Ende war. In der Aufregung vergaß Ceilia ihren Namen auf das Papier zu schreiben. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und legte ihren Schuh beim Hinausgehen auf den Stapel mit Zeichnungen.

In der nächsten Kunststunde gab die Lehrerin die benoteten Zeichnungen zurück. Eine Zeichnung, sagte sie, habe ihr besonders gefallen. Sie sei mit außerordentlich sicherem Strich gezeichnet und zeige das wahre Wesen des Schuhs. Dies sei schließlich das Ziel der Kunst, das wahre Wesen der Welt einzufangen, das ja für jeden anders und besonders sei. Das verlange einen sehr genauen Blick und die Fähigkeit die Wirklichkeit zu durchdringen. Und sie freue sich, dass sie eine so begabte Künstlerin in der Klasse habe. Leider habe die aber vergessen ihren Namen auf das Blatt zu schreiben. Und dies sei das Bild. Die Lehrerin hob Cecilias Zeichnung hoch. Die Mädchen schauten ehrfürchtig auf die Zeichnung, die dermaßen von der Lehrerin geadelt wurde.

„Du kannst dich ruhig melden“, sagte die Lehrerin in die Klasse hinein. Wen sah sie denn bloß an? Die Mädchen blickten sich gegenseitig an, welche von ihnen denn nun diesen sagenhaft realistischen Schuh zu zeichnen in der Lage gewesen war, diesen Schuh, der das Wesen aller Schuhe abbildete, den Schuh der die Wirklichkeit durchdrang. Suchend irrten ihre Blicke. Keiner traf Cecilia. Die langweilige Cecilia, die konnte ja nichts. Die war doch einfach nur merkwürdig und still und zu nichts zu gebrauchen. Aber plötzlich ging die Lehrerin gerade auf diese Cecilia zu, legte das Blatt vor sie hin und sagte: „Wirklich hervorragende Arbeit, eine Eins plus! Denk das nächste Mal ans Signieren.“ Die Lehrerin lächelte sie freundlich an. Cecilias Gesicht erstrahlte glutrot, automatisch senkte sie den Blick. Da sah sie ihren Schuh auf dem weißen Papier. Den hatte sie gezeichnet. Sie und keine andere. Sie hatte die beste Zeichnung abgeliefert. Da hob sie den Kopf und schaute das erste Mal seit langer Zeit ihren Mitschülerinnen in die Augen. Juli

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