Dienstag, 1. Juli 2008
1. Juli - Heute nur die Wahrheit
„Wird aber Zeit, dass Du kommst! Ich warte schon fast ne halbe Stunde!“, rufe ich schlechtgelaunt, als die Geschichte des Tages nach Atem ringend und schweißgebadet um die Ecke kommt.

„Ging nicht eher. Du glaubst nicht, was mir passiert ist!“, ruft sie.

Skeptisch ziehe ich die Augenbrauen hoch, dass meine Stirn Falten wirft. Was kommt jetzt wohl wieder für eine Ausrede. Ich kenne das ja schon.

„Die Muse kam zu spät und wollte mich nicht küssen“, oder: „Der Bus war schon weg“, oder, am tollsten: „Meine Oma war zu Besuch. Konnte die alte Dame ja schlecht rauswerfen“. Ich wette, dass diese Geschichten gar keine Großeltern haben! Fast immer aber höre ich den Klassiker: „Ich hab’ verschlafen“.

Das ist nämlich ein ganz schön faules Gesindel, diese Erzählungen und Kurzgeschichten. Gedichte sollen noch schlimmer sein. Die sitzen oft in der Ecke und weinen. Dann kommen die gar nicht, gleichgültig wie sehr so eine arme Autorin wie ich dann bittelt und bettelt.

„Nun?“, sage ich, weil die Geschichte immer noch pustend und nach Atem ringend vor mir steht.

„Ich bin ausgeraubt worden!“, stösst sie hervor.

„Ach was!“, sage ich und werde langsam sauer. „Mit anderen Worten, es ist nichts da. Nur leere Seiten. Überhaupt nichts dran an Dir, liebe Geschichte. Kommst extra angerannt und dann, kein Held, kein Konflikt, keine Erlösung, noch nicht einmal ein Apfelbaum mit wurmstichigen Äpfeln. Nichts. Kommst einfach so blanko, eine halbe Stunde zu spät. Und alles, was ich zu hören bekomme, ist: ‚Ich bin ausgeraubt worden’?“

Die Geschichte läuft knallrot an. „Aber ehrlich, ganz wirklich“, stammelt sie, „Da kam plötzlich so ein maskierter Kerl, zwei Meter groß, schwarzhaarig und mit einer Pistole! Der rief: ‚Buchstaben her oder ich knall Dich ab’. Was hättest Du denn da gemacht?“

„Das soll ich Dir glauben? Für eine Geschichte ist das aber eine ziemlich dünne Vorstellung. Etwas mehr Phantasie hätte ich schon von Dir erwartet“.

Wir stehen einander gegenüber und schauen uns in die Augen. Die Geschichte senkt zuerst den Blick und sagt:„Nun ja, ist ja auch egal. Es sind jedenfalls keine Buchstaben da, also auch keine Geschichte für heute. Und ich muss jetzt auch ganz schnell weg, meine Oma wollte noch vorbeikommen!“

Schon dreht sich die Geschichte um und rennt davon. Nur ein paar übriggebliebene Satzzeichen fliegen noch durch die Luft und sinken langsam zu Boden. Was bleibt mir also übrig als Euch heute diese völlig wahre Begebenheit zu berichten? Juli

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Montag, 30. Juni 2008
30. Juni - Der Schlüssel
Es war einmal ein armes Mädchen, das hatte keine Eltern mehr, keine Geschwister und kein Zuhause. Es besaß nicht mehr als die Kleider auf dem Leibe und einen großen, metallenen Schlüssel. Aber niemand wusste, an welchem Schloss er passte, auch das Mädchen nicht. Das Mädchen wusste nur, dass es unbedingt das Schloss finden musste.

Also ging es tagein tagaus durch Dörfer und Städte, durch Wälder und Felder, über Berge und durch Flüsse. Überall, wo das Mädchen ein Schloss fand, probierte es den Schlüssel. Aber nirgendwo passte er. Nachdem es schließlich ein Jahr und ein halbes so gegangen war, setzte es sich erschöpft nieder auf einen Stein am Wegesrand und überlegte, was es weiter tun sollte. Seine Kleider waren inzwischen zerschlissen, die Schuhsohlen waren durchlöchert und hungrig war das Mädchen auch ständig, denn es ernährte sich nur von den milden Gaben der Menschen und den Beeren und Früchten am Wegesrand. Vielleicht sollte es lieber aufgeben. Den Schlüssel einfach wegwerfen. Wieviel Millionen Schlösser gab es auf der Welt, in die dieser Schlüssel vielleicht passen mochte? Wie lange sollte es dauern diese alle zu erreichen? Und vielleicht verbarg sich hinter der Tür, in der Truhe oder wo der Schlüssel sonst Einlaß bieten mochte, etwas völlig Nutzloses oder Gefährliches.

Da kam ein altes Weiblein mit einem großen Bündel Reisig auf dem Rücken den Weg entlang. Die Alte trug so schwer an dem Bündel dass sie dem Mädchen leid tat. Also bot es an, das Bündel für sie nach Hause zu tragen. Die Frau bedankte sich, lud flugs dem Mädchen das schwere Bündel auf und ging in so schnellem Tempo voran, dass das Mädchen sich sputen musste, um sie einzuholen. Die Alte führte das Mädchen in den dunklen Wald, der schmale Pfad war im Dickickt kaum sichtbar. Und das Mädchen, schwer gebeugt unter der Last, stolperte häufig über Wurzeln und Äste. Nach einer Weile aber teilte sich der Wald und auf einer großen Lichtung mitten im Wald stand ein großes herrschaftliches Haus mit einem Turm an der linken Seite. Als das Mädchen diesen Turm sah, durchfuhr sie plötzlich ein Schauer. Eine große Tür mit einem großen Türschloss blickte sie an. Es war als zuckte der Schlüssel in ihrer Tasche, weil er nun endlich das Schloss gefunden hatte, zu dem er passte. Eilig warf das Mädchen das Bündel nieder, wo die Alte hindeutete. Dann entschuldigte es sich kurz und eilte zum Turm. Mit zitternden Fingern zog das Mädchen den Schlüssel hervor. Vorsichtig näherte es den Schlüssel dem Schloss. Er passte. Mit einem satten Ton ließ er sich drehen. Das Mädchen hörte ein Klacken. Voller Ehrfurcht drückte sie die Klinke hinunter und die Tür schwang auf.

In dem Turm erwartete sie ein behagliches Wohnzimmer, der Kamin brannte, eine Kanne mit dampfendem Tee stand auf dem Tisch und der gute Duft von frisch geröstetem Toastbrot drang dem Mädchen in die Nase. Zögernd trat das Mädchen ein. Sie wagte kaum etwas zu berühren. Voller Ehrfurcht betrachtete sie die hohen Bücherregale an den Wänden, die Gemälde, Teppiche, Möbel und Lampen. Linker Hand führte eine Treppe in das nächste Stockwerk. Dort gab es eine Küche. Auch dort war alles ordentlich und frisch, als hätte gerade jemand den Raum verlassen. Also stieg das Mädchen noch eine Etage höher. Dort fand sie das Schlafzimmer. Ein großes Bett mit Baldachin, eine schwere Truhe mit Kleidung. Die schienen alle die größe des Mädchens zu haben. Verwirrt schaute sich das Mädchen um. Plötzlich stand die alte Frau im Zimmer.

„Wem gehört das hier alles?“, fragte das Mädchen.

„Dir. natürlich“, sagte die Alte. „Du hast den Schlüssel“.

„Aber“, stammelte das Mädchen.

Da schüttelte die Alte den Kopf. „Weißt Du denn nicht, dass alles für Dich bereitet ist und nur auf Dich wartet? Wo warst Du solange?“

„Ich wusste doch nicht, wo der Schlüssel passt. Ich habe gesucht.“

Da schüttelte die Alte noch einmal den Kopf. „Na, jetzt bist Du ja da!“ Juni

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Sonntag, 29. Juni 2008
29. Juni - Die freie Wahl
Wieviel Freiheit bleibt im Angesicht des nahenden Todes?

Im Namen der Menschlichkeit Deines freien Willens beraubt. Deine Sinne sind ja benebelt. Du kannst nicht mehr klar denken. Zerfressen von Schmerzen. Durchwuchert von Krankheit. Deine in jahrzehntelanger Kleinarbeit erworbene Autonomie plötzlich in Chemie aufgelöst, in punktgenauer Strahlung atomisiert.

Ja, Angst, Angst so groß, so unglaublich groß und mächtig, aufgebauscht und ausgebreitet vor Dir, über Dir, in Dir.

Sag ja zu Deiner Entmündigung. Apparate und Werte und Statistiken wissen was gut und richtig für Dich ist. Dort etwas hinausschneiden, hier etwas hineinstopfen. Noch dankbar sein. Was dann?

Einfach abhauen in einer stillen Nacht. Lieber das Leben aufs Spiel setzen als immer, immer, immer zu hängen an dem, was alle anscheinend so wichtig nehmen.

Das Dasein!

Geht es nicht auch um das Wie? Zählt das nicht auch? Wer hat das Recht meine Entscheidungen zu treffen? Warum diese Anmaßung?

Je besser die Menschen umso astronomischer die Zahl ihrer Übergriffe.

"Ach", sagen sie dann, "wir haben es doch so gut gemeint, aber Du, Du wolltest ja nie hören. Du wolltest ja nie, niemals tun, was wir Dir sagen, was wir Dir nachtragen, was wir doch soviel besser wussten und wissen und wissen werden immerdar. Amen."

Aber ich sage: "Lasst mir mein Leben, lasst mir meine Entscheidungen! Für mich hört die freie Wahl nicht auf, weil mir einer den Nachttopf unter den Hintern schiebt."

Redet Ihr, fragt Ihr jemals, Ihr guten Menschen, wie es den Geschöpfen geht, denen Ihr unaufhörlich und ungefragt Gutes tut?

Oder rettet Ihr blind und selbstsüchtig die Welt, die Natur, die arme Kreatur, den Regenwald, das Klima, den bedauernswerten Kranken, damit Ihr Euch wertvoll fühlt?

„Egoismus hat so viele Gesichter“, murmele ich und nicke mir selbst im Spiegel zu. Juni

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