Montag, 2. Juni 2008
2. Juni - Gesines Leben
Gestern kam Gesine zu mir und sagte: „Du, borg mir doch mal eben Dein Leben aus.“ Ich musterte Gesine. Sie sah aus wie immer, hennagefärbtes Haar, wilde Locken, Ringelpulli, Cordhose, zwei nicht zusammenpassende Socken in offenen Sandalen, Gesine eben. Nur ihre Augen hatten heute so einen merkwürdigen Glanz. „Was willste denn damit?“, fragte ich. „Jetzt sei doch nicht so. Als wollte ich jetzt irgendwas Besonderes oder so. Nur heute, ehrlich.“ Gesine wartete. Ich zuckte mit den Schultern, schüttelte leicht den Kopf. „Hm, nö!“, sagte ich. „Mein Leben geb’ ich Dir nicht.“ Gesine kullerte mit den Augen. „Das hab ich mir doch gleich gedacht, dass Du soo bist. Da brauche ich einmal Deine Hilfe. Echt jetzt.“ „Wie, soo? Außerdem ist mein Leben schon was Besonderes. Kannste Dir nicht einfach ausleihen. Und was mach ich solange? Dein Leben hüten, oder was?“ „Ist doch für’n guten Zweck. Brauch das doch nur heute mal.“ „Aber warum?“ „Na, naja“, Gesine druckste herum, „ist nicht so einfach zu erklären.“ „Dann geb’ ich Dir mein Leben erst Recht nicht. Wer weiß, was Du damit anstellst. Ne, das geht nicht.“ „Ach menno, ich brauch’ das wirklich nur ganz kurz, heute Abend bring ich’s zurück. Lass Dir auch meins als Pfand da.“

Nun, kurz und gut, ich ließ mich breitschlagen. Wir haben also getauscht. Natürlich kam Gesine gestern Abend nicht wieder. Ist einfach so mit meinem erstklassigen Leben durchgebrannt. Hätte ich mir auch denken können, wenn ich mir den Saustall so angucke, den sie mir dagelassen hat. Bei meinem Glück kommt die wieder, sobald ich alles aufgeräumt und in Ordnung gebracht habe. Aber bis dahin wundert Euch nicht, wenn ich ab und zu mal verschiedene Socken anhabe. Das kann einem bei so einem chaotischen Leben wie Gesines schnell passieren. Juni

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Sonntag, 1. Juni 2008
1. Juni - Die Liste
Marie setzte sich eines Abends an ihren Küchentisch, klappte die leicht abwaschbare Tischdecke nach oben weg und öffnete die Schublade. Ja, da zwischen alten Einmachgummis und dem Sammelwerk „Fixe Rezepte für die berufstätige Hausfrau“, lag es das alte Schulheft von Uwe. Marie kramte es hervor, suchte einen Kugelschreiber. War keiner in der Schublade, also noch einmal aufstehen, auf der Telefonbank im Flur am Zettelkasten klemmte einer. Wieder am Küchentisch nahm Marie umständlich Platz und schlug das Heft auf. Auf den ersten paar Seiten waren alte Diktate von Uwe, vierte Klasse. Was der immer gekleckst hatte! Sie schüttelte den Kopf. Zu ihrer Zeit hatte es für Kleckse im Heft noch auf die Pfoten gegeben. Sie blätterte weiter, es folgten einige Aufstellungen von Haushaltsausgaben, die sie eine Zeit lang geführt hatte. Dann eine leere Seite.

Marie strich sie mit der Hand glatt und schrieb in ihrer schönsten Schreibschrift in die Mitte der ersten Zeile „Heinz“, darunter teilte sie die Seite durch eine vertikale Linie in zwei Spalten. In die linke Spalte schrieb sie „Pro“, in die rechte schrieb sie „Contra“. Danach schaute sie einen Augenblick auf die Blümchentapete vor sich, dann schrieb sie in die linke Spalte „handwerklich begabt“, dann in die rechte „zuviel in Kneipe“, dann „Weibergeschichten“, „verschwenderisch“, „interessiert sich nicht für meine Bedürfnisse“, „interessiert sich nicht für unsere Kinder“, „hilft nie im Haushalt“, „lässt sich bedienen“, „ist launisch“. Sie musste die Seite umschlagen und eine neue Spalte mit „Contra“ beginnen. Nachdem sie diese ebenfalls gefüllt hatte, erschrak Marie. Sie blätterte zurück und starrte auf die linke Spalte. Pro. Sie nagte an ihrer Unterlippe, ihr fiel einfach nichts ein, sie kaute am Kugelschreiber, immer noch nichts. Schließlich schrieb sie „sieht gut aus für sein Alter“ und darunter „Sex meistens ok“. Fast eine Minute starrte sie auf die Seite, es musste doch noch etwas Positives geben. Dann zuckte Marie mit den Schultern und zählte alle Punkte in der Spalte „Contra“. Es waren dreiundzwanzig. Dreiundzwanzig Punke, die gegen Heinz sprachen, nur drei für ihn. Die brauchte sie nicht zu zählen. Das war nun doch schlimmer als sie erwartet hatte. Sie klappte das Heft zu, legte den Kugelschreiber in gerader Linie daneben. Dann ging sie ins Schlafzimmer um Heinz’ Koffer zu packen. Juni

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Samstag, 31. Mai 2008
31. Mai - Freiheit
So ein großes Wort für eine so kleine Sache. Freiheit ist gar nichts besonderes, solange Du sie hast. Erst wenn einer kommt und Dir Deine Freiheit einschränkt, Dir Deine Freiheit wegnimmt, da wird das plötzlich zu einer großen Sache. Was aber, wenn Du wie ein Zootier noch niemals gelernt hast, in der großen, wilden Freiheit zu bestehen? Wenn die Freiheit für Dich noch nie erreichbar, noch nie lebbar war? Wirst Du Dich dann nach ihr sehnen? Und falls ja, wirst Du sie mögen, wenn Du sie wirklich erlangst? Gefangenschaft im goldenen Käfig ist das schlimmste, was man jemandem antun kann. Gefangenschaft im artgerecht eingerichteten Gehege. Gefangenschaft mit der Absicht dem Insassen nur das Beste anzutun. Manchmal verlogen, manchmal ganz ehrlich gemeint. Wenn Dein Freiheitsdrang die Angst und Bequemlichkeit überwindet, wirst Du Dich wohl fühlen in all der Freiheit, wirst Du der Wildniss gewachsen sein? Vielleicht wirst Du am ersten Tag der großen Freiheit gefressen, vielleicht macht Dir die Freiheit soviel Angst, dass Du schnell einen neuen Käfig suchst. Aber die Sehnsucht wird Dich niemals verlassen. Irgendwann musst Du hinaus in die Freiheit – oder jämmerlich eingehen. Mai

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