Dienstag, 30. Dezember 2008
30. Dezember - Olle Geister
In dieser Zeit zwischen den Jahren, zwischen Heiligabend und Dreikönigstag, da kommen sie aus ihren Ecken, die ollen Geister der Vergangenheit. Manche gähnend und sich am Kopf kratzend. Wieso sollen sie jetzt schon wieder? Auch ein oller Geist hätte ja gerne mal seine Ruhe.

Aber so ist das eben, zwischen den Jahren, in den Rauhnächten, vor allem bei Neumond, da besteht Anwesenheitspflicht. Also schleppen sich die Geister aus den Ritzen der Dielenbretter, schlüpfen durch die Gipslöcher aus den Wänden, schweben ganz langsam durch die Dunstabzugshaube in die Küche.

Plötzlich sinkt die Raumtemperatur um 3 bis 4 Grad. Staub und vergessene Gerüche schweben durch das Haus. Es knackt und knorzt im Gebälk. Die Menschen schütteln sich und sagen Dinge wie: "Ist aber kalt heute!" Dann drehen sie die Heizung etwas weiter auf oder legen noch einen Scheit ins Feuer.

Katzen können die Geister sehen. Die alten Kater lassen sich gar nicht weiter stören. Aber junge Katzen springen die Wände hinauf, versuchen diesen Hauch von Nichts zu fangen. Natürlich gelingt es ihnen nicht. Die ollen Geister streifen durchs Haus, legen sich probeweise aufs Sofa, inspizieren den Backofen und die unaufgeräumten Schubladen. Manchmal bringen sie die noch ein bisschen mehr durcheinander.

Die meisten Menschen haben kein Empfinden für sie. Sie wischen nur ein bisschen mehr Staub fort als sonst. Das komme von der trockenen Heizungsluft, sagen sie dann. Es gibt nur wenige Menschen, die sprechen mit den Geistern in ihren Träumen, betrachten mit ihnen die Sterne und schauen zu wie der Atem dabei gefriert in der dunklen, klaren Nacht. Wenn die Schatten flüstern. Dezember

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29. Dezember - Mutig wie ein Mäuschen
Seine Nasenspitze zittert. Wenn Sebastian Schnurrhaare hätte, würden auch die jetzt zittern. Unheimlich ist das heute in dem alten Haus von Oma. Mama ist in der Küche mit ihren Geschwistern, den Onkeln und Tanten, den Nachbarn von links und von rechts. Sie nehmen Mama in den Arm und helfen Kaffee kochen und Brote schmieren.

Die Oma liegt im Wohnzimmer, in ihrem Lieblingssessel. Sie atmet nicht mehr. Mama hat eine Decke über sie gelegt. Aber Omas Gesicht ist nicht zugedeckt und die Arme liegen auch über der Decke. Sebastian hat beobachtet, wie ein Nachbar nach dem anderen, ein Verwandter nach dem anderen hineingegangen ist zu ihr. Sie angeschaut hat, noch einmal ihre Hand berührt hat.

Manche haben nur schnell einen Blick geworfen und sind dann wieder zu den anderen gegangen. Sich in die Herde drängend. Leben atmen. Den Anblick des Todes vergessen. Sebastian hat sich nur bis an die Tür getraut. Die ganze Zeit haben sich die Leute an ihm vorbeigedrängt, Abschied genommen.

Heute ist Sonntag. Alle haben Zeit zu kommen. Sebastian staunt wie viele Leute die Oma kannten. Wie ein Lauffeuer hat es sich im ganzen Dorf herumgesprochen. Wahrscheinlich hat jeder den Hubschrauber gehört, der heute Vormittag bei Omas Haus gelandet ist. Aber es war schon zu spät, die Notärzte sind wieder davongeflogen. Das hat Tante Lisa wieder und wieder jedem erzählt, Mamas Schwester. Sie hat Mama panisch angerufen als Sebastian noch im Bett lag heute früh.

"Die Mutter stirbt, komm her, sofort!", hat sie durchs Telefon gebrüllt, sofort wieder aufgelegt. Da gab es kein Überlegen, kein Irgendwas. Mama hat Sebastian nur einen Mantel übergezogen und die Stiefel an. Dann sind sie mit dem Auto rübergebraust zu Oma. Das hat höchstens fünf Minuten gedauert, aber es war schon zu spät. Die Notärzte haben sich gerade verabschiedet. Tante Lisa sprang rum wie ein aufgescheuchtes Huhn und Mama wurde ganz blaß.

Sebastian war an der Wohnzimmertür stehen geblieben. Die Nachbarn von gegenüber kamen durch die Terrassentür. Irgendwer rief den Arzt an, Mama rief die anderen Geschwister an. Die würden frühestens in einer Stunde hier sein. Immer mehr füllte sich der Raum. Im Garten standen die Leute, in der Küche begannen die Nachbarsfrauen mit Kaffeekochen. Sebastian hatte das Gefühl, dass all das nur so an ihm vorbeizog.

Irgendwann kamen Onkel Georg und seine Freundin und Tante Sabine. Auch der Arzt kam, untersuchte die Oma und redete mit den Erwachsenen. Sebastian stand einfach da. Ließ es geschehen, dass ihm ab und zu jemand übers Haar strich. Die Oma lag da in ihrem Lieblingssessel und atmete nicht mehr. Im Wohnzimmer war jetzt niemand mehr.

Sebastians Nasespitze zitterte. Wenn er Schnurrhaare hätte, würden auch die jetzt zittern. Langsam und vorsichtig schiebt sich Sebastian vor. Vielleicht, wenn er Omas Hand ganz fest in seine nimmt. Wenn er ihr das Haar aus dem Gesicht streicht. Wenn er ihr in den Bauch piekst. Vielleicht wacht sie dann wieder auf.

Aber dann steht Sebastian vor der Oma. Ihr Gesicht ist ganz grau. Ihre Hand ist unnatürlich kalt. Alles Lebendige an ihr ist verschwunden. Die Oma schläft nicht. Die Oma ist wirklich, wirklich tot. Sebastians Nasenspitze zittert. Tränen rollen ihm die Wange hinab. Er kauert sich zu Omas Füßen vor den Sessel und weint und weint.

Plötzlich kommt Mama und nimmt ihn in den Arm. Dann weinen sie beide bis ihre Trauer zu einem kleinen Rinnsal zusammengeschmolzen ist. Dezember

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